The Gallery (Review)

Artwork zu The Gallery

Interaktive Filme, also jene Hybride aus Film und Videospielen, haben eine recht lange Geschichte. Historisch lassen sie sich bis zu den sogenannten “Cinematic shooting galleries“ zurückverfolgen, die Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem im Vereinigten Königreich populär waren. Sehr viele Jahre später sind es allen voran immer noch die Briten, die das FMV-Genre am Leben erhalten. Und mit The Gallery von Paul Raschid, Autor und Regisseur von u.a. Five Dates oder The Complex, erblickte kürzlich erneut ein Spiel dieser Art das Licht der Welt. In der Hoffnung eines netten Filmabends habe ich mir daher das Testmuster geschnappt, die Series X angeworfen und spannende Stunden in einer Kunstgalerie verbracht.

Zeit-Spielereien in The Gallery

Doch bereits im Menü merkte ich, dass ich einem Irrtum auferlegen bin. Der Trailer suggerierte mir The Gallery als einen abstrakten Thriller, der sich auf zwei unterschiedliche Zeitebenen aufgeteilt hat. Dies ist allerdings nicht ganz richtig. The Gallery erzählt im Jahr 1981 und im Jahr 2021 dieselbe Geschichte, mit demselben Plot und mit denselben Schauspielern. Und dennoch wirken beide Storys trotz teilweise ähnlicher Struktur und stellenweise identischen Dialogen sehr unterschiedlich. Woran liegt das?

Screenshot aus The Gallery
Wie sollen wir nur aus diesem Dilemma entkommen?

Beide Zeitebenen, die sich separat über das Hauptmenü anwählen lassen, spielen in einer kleinen, britischen Kunstgalerie für Porträtmalerei. Morgan (1981 gespielt von Anna Popplewell, 2021 von George Blagden) ist für den Betrieb der Galerie zuständig und hat einen wichtigen Tag vor sich. Aufgrund Vitamin B (B steht für Betthupferl) darf sie ein berühmtes Porträt ausstellen, was der Galerie viel Aufmerksamkeit bringen soll. Leider hat aber auch Dorian (gespielt von denselben Personen in vertauschten Rollen) ein Auge auf die Galerie geworfen. 

Denn am Vorabend steht Dorian plötzlich mitten in der Galerie und möchte ein Porträt von Morgan malen. Widerwillig stimmt Morgan zu, doch dann schnappt die Falle zu. Kaum hat sich Morgan auf den Stuhl gesetzt, um Modell für Dorian zu sein, aktiviert sich unter dem Sitz eine Bombe. Steht Morgan auf, fliegt diese in die Luft. Fortan entspinnt sich ein in beiden Zeitebenen recht spannender Thriller, in dem unsere Entscheidungen den Ausgang der Nacht bestimmen.

Ein spannendes Konzept für Cineasten…

Nach der kurzen Ernüchterung, hier kein abstraktes Zeitreise- oder Schicksals-Drama, oder wie auch immer man es nennen könnte, zu erhalten, bin ich dennoch ein wenig fasziniert. Es beginnt bei Popplewell und Blagden, deren Figuren diametral zueinander stehen. Beide verkörpern Dorian in ihren Zeitebenen auf komplett unterschiedliche Weise. 1981 ist Dorian ruhig und besonnen, strahlt eine gewisse Dominanz, aber auch Warmherzigkeit aus, sofern unsere Entscheidungen die Beziehung der Charaktere verbessern. 2021 hingegen ist Dorian aggressiver und distanzierter. Die Dominanz wird hier eher aus der Situation gezogen, da uns Dorian über den Verlauf der knapp anderthalb Stunden Geschichte fortwährend fern erscheint. 

Morgan hingegen bleibt in beiden Zeitebenen recht nah vom Charakter. Beides sind ambitionierte Figuren, die tief in ihrem Inneren für das Wesen der Galerie brennen, aber ein wenig ihren eigenen moralischen Kompass verloren haben. Im Konflikt mit Dorian entspinnen sich so leichte Ansätze eines positiven Charakterwandels, allerdings beeinträchtigt von der moralisch nicht so einwandfreien, anarchistischen Perspektive Dorians.

Doch auch in anderen Aspekten unterscheiden sich beide Zeitebenen stark. Der Film in 1981 wirkt bezüglich der Kameraarbeit und dem Schnitt verspielter. Die Beleuchtung der Szenen sowie die allgemeine Farbgebung wirken wärmer und zugleich auch bedrohlicher. 2021 hingegen hat einen schnelleren Schnitt, unruhigere Kameraarbeit und viele andere Elemente, die diese Zeitebene visuell und atmosphärisch abgrenzen. Mir persönlich gefiel aus diesen Gründen sowie dem in meinen Augen noch besser abgestimmten Schauspiel der Hauptcharaktere 1981 besser. Und wahrscheinlich würde ich The Gallery auch mögen, wenn sich das FMV nur um diese Ebene drehen würde.

…doch für FMV-Fans eher gehobener Durchschnitt

Spielerisch gewinnt The Gallery allerdings keinen Innovations-Preis. Wer das Genre kennt, der kennt die üblichen Abläufe. Der Film läuft ab und an bestimmten Stellen werden wir als Hauptfigur der Handlung vor eine Entscheidung gestellt. Diese Entscheidung wirft uns entweder in eine abgewandelte Richtung in der Geschichte oder verändert unsere Beziehung zu anderen Figuren. Dies beeinflusst seinerseits die Szenenabfolge, da Charaktere sich anders verhalten, als sie es unter anderen Umständen täten.

Screenshot aus The Gallery
Aber…aber…war der nicht eben noch das Opfer!?

Auf diese Weise machen Wiederholungen Sinn. Und wenn wir eine Zeitebene erneut spielen, können wir Szenen überspringen, deren Ablauf wir bereits kennen. Dies hat allerdings zur Folge, dass manche Rückkehr in eine Entscheidung kurz verwundern lässt, da die Umstände nicht mehr bekannt sein können. Wie gut, dass auch The Gallery den Modus anbietet, dass Entscheidungen mit oder ohne Zeitbeschränkung getroffen werden können. 

Ich bin bei dieser doch sehr starren Gameplay-Herangehensweise immer ein wenig zwiegespalten. Ich mag es, dass neue Pfaden ermöglicht werden. So hatte ich in meinem zweiten Durchgang 1981 plötzlich eine Möglichkeit, um Dorian zu bekämpfen, die ich vorher nicht hatte. War dann aber für das Ende irrelevant, weil ich später wieder ganz woanders abgebogen zu sein schien. Yeah..

Mich persönlich stören zudem Einblendungen wie “Story verändert” oder “Beziehung verbessert”. Eine allgegenwärtige Krankheit aller Narrative-Adventure, nicht nur FMV. Warum nicht so simpel wie Until Dawn bleiben und lediglich ein Symbol einblenden, dass etwas passiert ist? Was spricht gegen ein wenig Mysterium?

Experiment für The Gallery geglückt?

Paul Raschid hat meiner Ansicht nach mit The Gallery ein sehr interessantes FMV erschaffen. Nicht weil die Story dahinter bahnbrechend wäre oder das Gameplay Fortschritte in einem doch recht stagnierenden Genre macht. Doch die Aufteilung derselben Handlung, mit weitestgehend identischen Dialogen und denselben Schauspieler:innen in zwei unterschiedliche Filmprojekte ist eine spannende Fallstudie zu den Elementen des Films. Dieselben Personen verkörpern unterschiedliche Charaktere. Derselbe Plot, aber dennoch eine komplett andere Atmosphäre. The Gallery ist so ein Beispiel dafür, wie mit größeren und kleineren Tricks aus demselben Material eine komplett andere Wirkung erzielt wird. Freunde des FMV-Genres finden hier spielerisch zwar nur solide Kost, aber The Gallery ist mehr als nur ein weiteres Adventure dieser Art. Es ist ein künstlerisches Experiment, welches Eindruck erzeugt. Und im “schlechtesten” Falle dennoch zu unterhalten weiß.

Explosive Spannung auf Xbox Series X. Ein herzlicher Dank geht an Aviary Studios für die Bereitstellung eines Mustercodes.