Road 96 (Review)

Titelbild zu ROad 96 mit Logo in der Mitte über einer Straße inmitten einer Wüste.

Jeder von uns dürfte im Bereich Videospiele sein Steckenpferd besitzen. Ich liebe es beispielsweise mich über das Storytelling, die Möglichkeiten und Grenzen des Mediums sowie Plotinhalte zu informieren, darüber zu diskutieren und fabulieren. Und auch als Meckerkopf kann ich Spielen wie Twelve Minutes trotz ihrer Schwächen viele positive Aspekte abgewinnen. Road 96 ist jetzt der nächste Kandidat in jener Liste von Titeln, denen leider auf halber Strecke das Benzin ausgegangen ist und mich nicht komplett abholen konnte. Warum ich das Meckern nicht sein lassen kann und trotz bemerkenswertem Potenzial nur eine gelbe Ampel am Ende dieser Review steht, verrate ich euch hier.

Entlang der Road 96 in die Freiheit

Freiheit ist in der Diktatur Petria ein Fremdwort, seit der Präsident Tyrak die Macht übernommen hat. Seitdem berichten die Medien nur, was ihm wohl gediehen ist, und auch das Volk hat sich seinem Willen großteils gebeugt. Dennoch existiert eine kleine Gruppierung von Widerstandskämpfern, die für die anstehenden Wahlen große Pläne geschmiedet haben, um ein Zeichen für Freiheit und Toleranz zu setzen. Jugendliche hingegen haben jede Hoffnung auf Veränderung verloren und suchen oftmals ihr Heil in der Flucht. Per Anhalter reisen sie ohne Geld oder Lebensmittel in den Norden des Landes, um auf der Road 96, der einzigen Anbindung zur Grenze, einen Weg in die Freiheit zu finden.

Bewegtbild eines Vans, der auf einer geraden Straße durch eine Wüste an vereinzelten Gebäuden und Strommasten vorbeifährt.

Wir schlüpfen in jeder der sechs Episoden von Road 96 in die Rolle eines anderen Teenagers. Auf unseren langen Wegen an die Grenze teilt sich jede Episode in mehrere Unterkapitel auf, in denen sich jeweils kleinere Areale öffnen. Hier erkunden wir Raststätten oder andere Orte aus der Egoperspektive, sammeln Items auf und interagieren mit Umgebung und Spielfiguren. Jeder Ort beherbergt in der Regel eine Geschichte, die wir erleben und mit unseren Entscheidungen in Dialogen oder Interaktionen beeinflussen dürfen. So manipulieren wir einerseits das Verhalten der Charaktere denen wir begegnen, als auch das allgemeine Stimmungsbild im Land. Die sechs Episoden decken mehrere Wochen vor der Wahl in Petria ab und unsere Handlungen können den Ausgang dieser Wahl beeinflussen. Dafür beschmieren wir Plakate oder stellen uns politisch auf die “richtige” Seite.

Choose your own adventure!

Die Welt von Road 96 sowie unsere Möglichkeiten diese langfristig zu manipulieren, haben mir während des Spielens sehr gut gefallen. Als unbeteiligte Zuschauer (unsere Teenager haben allesamt keine Persönlichkeit) beobachten wir, wie sich die Welt nach und nach verändert – oder je nach Entscheidung eben nicht. Aufgrund seiner prozeduralen Storystruktur wirkt der Pfad auf den ersten Blick sehr variabel und deutet an, wie stark sich dies auf das Storytelling von Games auswirken kann. Nichtsdestotrotz hatte ich das Gefühl, dass der Ausgang meiner persönlichen Reise nur selten von wirklich großen Entscheidungen beeinflusst wird. Stattdessen war es eher der Zufall, der meinen Weg mit der Geschichte der unterschiedlichen Akteur:innen des Spiels kreuzen ließ.

Dennoch will Road 96 es uns nicht einfach machen, welchen Weg wir einschlagen dürfen. Auf unserer Reise müssen wir darauf achten, dass unsere Ausdauer durch ausreichend Ruhe oder Nahrung hoch genug ist. Wandern verbraucht weitaus mehr Energie als Trampen, in einem Auto können wir uns ausruhen, kostet aber dementsprechend mehr als Busfahren. Das dafür notwendige Geld wäre die zweite Komponente, die wir dringend im Auge behalten und in den Kapiteln finden sollten. Manche Dialogoption oder Interaktion steht nur dann zur Verfügung, wenn wir genug Geld in der Tasche haben. Ab der zweiten Episode werden dann unsere Jugendlichen zufällig generiert. Es lohnt sich daher genau auf vordefinierte Startwerte wie Energie, Geld oder Ausgangspunkt Wert zu legen, bevor wir uns zwischen einem von drei Teenagern entscheiden. 

Screenshot. Darstellung einer Straßenkarte der Spielwelt, in der sich bereits einige Wegstrecken eingezeichnet finden.
Das weit verzweigte Netz von Petria offenbart viele, unterschiedliche Routen in die Freiheit

In einigen speziellen Kapiteln können wir allerdings auch Eigenschaften freischalten, die fortan für alle Jugendlichen gelten. Mehr Kraft, Geschicklichkeit oder Hacken schalten sich an bestimmten (und natürlich zufällig zugeordneten) Momenten frei und helfen uns in der Folge bei weiteren Interaktionen, die vorher gesperrt waren. Ich bin allerdings kein Fan von dieser Mechanik. Was habe ich von einer Fähigkeit, die mir zufällig kurz vor Schluss gewährt wird? In New Game Plus könnte man direkt mit den freigeschalteten Eigenschaften starten. Aber ich musste mir die Frage stellen, ob ich das wirklich will, wenn mir bis dahin die offenbarte Geschichte kaum zusagt.

Die düsteren Geheimnisse von Petria

Road 96 ist nämlich keine Ansammlung von kleineren Momenten ohne jegliche Form von Zusammenhang, in der Petria und sein Volk im Mittelpunkt stehen. Weil unsere Jugendlichen nur leere Hüllen sind, orientiert sich der rote Faden an vorgefertigten Charakteren. Deren Kapitel können in beliebiger Reihenfolge auftreten und bilden im Endeffekt ein Puzzle, welches sich erst am Ende zusammensetzt und jeweils in einem Finale für diesen Charakter mündet. Hin und wieder überschneiden sich die Wege dieser Figuren. Diese Treffen sind, sofern sie eintreffen, ein Highlight der ansonsten blassen Geschichten.

Wann diese Überschneidungen eintreffen, lässt sich nicht vorhersehen. Genausowenig haben wir selbstverständlich Kontrolle darüber, welches Kapitel wir von wem als Nächstes erleben. Unsere Entscheidungen haben dort keinen sichtbaren Einfluss und es wird alles prozedural vorherbestimmt. Dieser Umstand hat aber gleichzeitig zur Folge, dass manche Szenen sehr konstruiert wirken. Weil wir in den sechs Episoden sechs verschiedene Jugendliche spielen, verlaufen alle Geschichten nach demselben Muster. Wir begegnen einer der Hauptfiguren, triggern ein Gespräch mit jener und erfahren nahezu sofort alles über sie.

Manchmal kommt auch ein Minispiel darin vor, um Abwechslung zu suggerieren, aber mehr Fingerübung als spaßiges Vergnügen sind. Bereits in meinem allerersten Kapitel mit der Polizistin erzählte sie mir, dass ihr Sohn verschwunden sei, weil dies und das und jenes. Storymäßig sind das für den jeweiligen Charakter relevante Punkte (aus Spoilergründen bewusst nicht genannt), aber deren Offenheit wirkt stark forciert. Die Absicht ist logisch: Als Spieler:innen sollen wir eine emotionale Bindung zu diesen Figuren entwickeln, weil dies mit leerer Hülle und Spielwelt alleine schwer machbar ist. Über das Ergebnis ließe sich sicher streiten, mich persönlich haben allerdings die sieben unterschiedlichen Handlungsfäden nicht abholen können.

Sand im narrativen Getriebe

Emotionen sind ein wichtiger Kraftstoff und wenn eine Narrative – egal wie sie aufgebaut ist – es nicht schafft, diese gelungen zu transportieren, fehlt der Story etwas. Vor allem, wenn der Inhalt der Geschichten sichtbar genau diese Emotionen wecken will. Egal ob Freude, Mitgefühl oder ähnliches – bei Road 96 gab es nur sehr wenige Momente, die ich im Nachhinein wichtig für mein Erleben mit dem Spiel empfand. Zudem verhindert die sprunghafte Erzählungsweise ohne linear aufeinander aufbauende Struktur die dafür notwendige Bindung zu den Charakteren. Das Spiel bietet einerseits so viele Freiheiten beim Fortsetzen der Reise, wirkt aber dennoch mit diesen Geschichten seltsam eingeschränkt. Fast schon widersprüchlich.

Screenshot. Darstellung des Charakters Jarod auf dem Beifahrersitz eines Autos.  In der Mitte sind Dialogoptionen eingeblendet.
Die Charaktere von Road 96 haben ein visuell sehr individuelles Design, leiden aber an narrativer Blässe

Noch widersprüchlicher wird es allerdings, wenn mir das Spiel logische Schlussfolgerungen bei zwei benachbarten Kapiteln vorenthält. Größtes, möglichst spoilerfreies Beispiel aus meinem Durchgang: In einem Kapitel begleite ich einen Verbrecher und entdecke sein Geheimnis. Im Kapitel danach begleite ich eine Polizistin, die genau dessen Identität herausfinden will. Obwohl ich in der vorangegangenen Szene keine Entscheidung getroffen habe, die mir eventuell nachfolgende Optionen gesperrt hätte, kann ich der Polizistin das Geheimnis nicht verraten. Stattdessen folge ich dem Faden der Handlung, befrage Gäste eines Hotels und erhalte so die notwendigen Hinweise auf ihn.

Dass ich später in der Szene, als der Täter auftaucht, diesen nicht verraten konnte – geschenkt! Aber solche Widersprüchlichkeiten und Distanzen zum Geschehen gibt es viele in Road 96. Hätte das Studio seinen narrativen Fokus mehr auf die Welt gelegt, wäre Road 96 ein weitaus interessanteres Spiel geworden. Die Charaktere und deren Einbindung in das prozedurale Storytelling können es leider nicht alleine tragen.

Eine sehr holprige Road 96

Road 96 hat ein wenig Pech, dass sich mir ab einer Szene mit Zoe für den Rest der Spielzeit der Vergleich mit Life is Strange aufgedrängt hat. Artdirecting, Musik und Kamera(schnitt) waren so stark davon inspiriert, dass sich der Eindruck beinahe schon zementiert hat. Dies ist dahingehend schade, weil Road 96 in ruhigen Momenten seinen sehr einzigartigen Animationsstil gut zur Geltung bringen kann. Je schneller allerdings die steifen Animationen wurden, desto trüber entwickelte sich mein positiver Eindruck.

Screenshot. Darstellung des Charakters Zoe links an einem Lagerfeuer sitzend. Rechts sieht man, dass unsere Figur eine Tube spielt. Der Bildschirm ist von einem musikalischen Minispiel überlagert.
Minispiele wie diese musikalische Einlage lockern die Geschichten ein wenig auf

In den knapp etwas mehr als acht Stunden, die ich für alle sechs Episoden gebraucht habe, gab es immer wieder Momente, die meine Laune gedämpft haben. So bewegen sich Dialogoptionen mit den Charakteren, zu denen wir sprechen wollen, mit. Je nach Bewegung kann es daher vorkommen, dass es sehr schwer ist die korrekte Option – oder überhaupt eine – zu erwischen. Zudem fehlt es an einigen Stellen an Realismus. Einerseits verharren Figuren innerhalb der Spielwelt an Ort und Stelle trotz Zeitsprungs in die Nacht oder den Tag hinein. Andererseits wirkt das totalitäre Regime oftmals nur für andere bedrohlich, aber nicht für den eigenen Teenager.

Ein interessantes Konzept garantiert keine gute Umsetzung

Ich bin wie schon bei den eingangs erwähnten Titeln bei Road 96 ein wenig zwiegespalten. An vielen Stellen lassen sich die Ambitionen förmlich spüren. Digixart hat eine interessante Welt geschaffen und lässt uns diese auf vielfältige Weise mit seiner prozeduralen Herangehensweise miterleben. Spielerisch gibt es zudem Abwechslung und ein simples Management-System, um den Entscheidungen mehr Gewicht zu verleihen.

Leider schränkt sich das Spiel dann selbst ein. Es bekommt den Spagat aus sprunghafter Erzählweise und rotem Faden mit Besinnung auf Charakter-basierte Geschichten nicht gut genug hin. Widersprüche und fehlende Highlights machen die Narrative blass und leider nicht sehr einnehmend. Und die vielen kleinen Stolpersteine trüben den Spielspaß, weshalb Road 96 leider in der Umsetzung nicht so gut geworden ist, wie es seine Prämisse versprochen hat.

Getestet auf dem PC via Steam. Ein herzlicher Dank geht an Digixart für die Bereitstellung des Mustercodes!