Chaos;Head Noah (Review)

Die Science-Adventure-Serie von 5pb hat sich seit Stein;Gate im Westen unter Visual Novel-Freunden etabliert. Etwas unglücklich war allerdings, dass der erste Teil der Reihe, Chaos;Head, uns bislang vorenthalten wurde. Besonders auffällig war das beim direkten Sequel Chaos;Child, das die Ereignisse aus Chaos;Head aufgegriffen hat. Nun endlich können Nintendo Switch-Spieler Chaos;Head in der erweiterten Noah-Fassung nachholen. Dieser Test ist eine zweite Meinung zum bereits zum Launch veröffentlichen Review meines Kollegen Thomas.

Chaos;Head Noah wird größtenteils aus der Perspektive des Highschool Schülers Takumi Nishijo gespielt, der eine etwas eigenartige Schuldisziplin aufweist. So hat Takumi einen elaborierten Anwesenheitsplan ausgearbeitet, um so gerade oft genug zur Schule zu erscheinen, dass er seinen Schulabschluss erreichen kann. In seiner Freizeit hält sich Takumi fast ausschließlich in seiner Wohnung, einem Container auf dem Dach eines Hauses, das seinem Vater gehört, auf und spielt ein Online-Rollenspiel oder schaut Anime-Sendungen. Besonders auffällig bereits früh im Spiel ist Takumis abweisender Umgang anderen Menschen gegenüber, allen zuvorderst seiner Schwester Nanami gegenüber, die er ohne Unterlass mit Feindseligkeit begegnet.

Lokal wie online wird Takumi trotz seines initialen Desinteresses in einer Reihe von bemerkenswerten Morden verwickelt, den so genannten New Generation Morden. In Shibuya werden im Verlauf des Spiels medienwirksame mysteriöse Mörde verübt, die offenbar in irgendeiner Art mit Takumi zusammenhängen. Es stellt sich alsbald die Frage, ob nicht gar Takumi selbst der New Gen-Mörder sein könnte. Die Geschichte ist sehr spannend geschrieben und hat einen guten Rhythmus in seiner Erzählweise. Die Mischung aus Krimi, Science-Fiction- und Mystery-Geschichte weist viele interessante Ideen und Wendungen auf.

Allerdings kommt die hoher Qualität der Erzählung, verglichen mit anderen Videospielen, selbst mit Visual Novels, mit einer sehr beschränkten Interaktivität einher. So kann man im gesamten Spiel nur auf eine Weise mit dem Spiel interagieren: Man kann an optisch hervorgehobenen Stellen eine Wahnvorstellung Takumis auslösen. Dabei hat man jeweils die Wahl, keine Wahnvorstellung auszulösen (keine Eingabe), eine negative Wahnvorstellung (ZL) oder eine positive Wahnvorstellung (ZR). Über die Wahl von Wahnvorstellungen im Verlauf des Spiels kann man nach dem ersten Durchspielen alternative Enden freischalten, die oftmals einen gewissen Anteil an sexuellen Inhalten enthalten, die zwar nicht visuell explizit sind, aber inhaltlich doch sehr speziell sind. In jedem Fall wird man um thematische Behandlungen von Vergewaltigung und Inzest nicht umhinkommen, wenn man alle Enden des Spiels sehen möchte – und somit Zugriff auf das kanonische Ende erhalten möchte, das die Vorgänge im Spiel genauer und umfassender erläutert. Fragwürdig ist allerdings, wie man ohne Guide die verschiedenen Enden des Spiels finden soll. Für meine Begriffe ist das mit einem vertretbaren Zeitaufwand kaum möglich.

Neben einer gewissen Toleranz für sexuelle Thematiken muss man auf jeden Fall auch einen starken Magen hinsichtlich Gewalt mitbringen, denn auch in dieser Hinsicht geizen die Entwickler nicht mit unangenehmen Thematiken. Wer Schwierigkeiten mit Themen wie Kindstod, Freiheitsentzug, Folter und grausamen Morden in Medienerzeugnissen hat, wird mit Chaos;Head Noah wahrscheinlich nicht glücklich. Allerdings muss man auch anmerken, dass das Spiel die Gewalt nicht verherrlicht, sondern sich von dieser inhaltlich schon deutlich distanziert. Das gilt übrigens auch für die zuvor angesprochenen sexuellen Inhalte, die nicht einfach der Ansprache an den Spieler dienen.

Chaos;Head Noah fällt im vergleich zu anderen aus der Ego-Perspektive erzählten Geschichten stark aus der Rolle, da der Hauptcharakter kaum eine Identifikationsfläche bietet, sondern klar ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse ist, der seine Umgebung rücksichtslos behandelt und trotz einer Art besonderer Kraft eine sehr zweifelhafte Heldenfigur darstellt. Die Geschichte packt also vor allem über ihre Inhaltsebene als über einen persönlich-emotionalen Bezug zu den Protagonisten. Wenn man Chaos;Child vorher gespielt hat, werden zwar eine Menge inhaltlicher Punkte bereits bekannt sein, aber spannend ist die Geschichte dennoch auch in diesem Fall. Im direkten Vergleich finde ich Chaos;Child aber noch etwas besser geschrieben.

Chaos;Head Noah ist eine gute geschriebene und abwechslungsreiche Visual Novel, die vor allem Mystery-Fans begeistern dürfte. In physischer Form ist das Spiel gebundelt mit dem noch etwas besseren Nachfolger Chaos;Child; digital kann man die beiden Spiele auch separat erstehen. In dieser Woche ist das Spiel übrigens auch DRM-frei für den PC via GOG verfügbar gemacht worden.

Getestet auf Nintendo Switch. Vielen Dank an Spike Chunsoft für die Bereitstellung des Testmusters.