Night Book (Review)

Titelartwork von Night Book. Unten befindet sich das Logo, darüber halb im Schatten das Gesicht der Protagonistin. Das Gesicht sieht gequält aus und es wird von lilafarbenen Schriftzeichen überdeckt.

Filme und Videospiele sind sich über die Jahrzehnte immer näher gekommen. So bedient sich das jüngere Medium an dem reichhaltigen und fruchtbaren Erbe gängiger Techniken und Kunstkniffe seines älteren Bruders. Die ersten Gehversuche des hybriden Genres der Full Motion Videogames mit Klassikern wie Night Trap habe ich damals nicht verfolgt. Die “neuere” Renaissance des Genres verfolge ich hingegen mit großer Spannung. Vor allem Publisher Wales Interactive hat sich hier mit zahlreichen neuen, spannenden Titeln einen Namen machen können. Deren neues Projekt Night Book hat mich daher sofort angesprochen. Also eilig den Mustercode eingelöst und gemütlich zu einem Filmabend vor den Fernseher geparkt.

Unheimlicher Grauen in Night Book

Wahrscheinlich hätte sich Loralyn auch lieber vor den Fernseher gesetzt, statt an diesem Abend eine Nachtschicht einzulegen. Die schwangere Dolmetscherin und Heldin von Night Book hat allerdings gerade erst eine neue Stelle angetreten und will sich beweisen. Dazu kommt, dass sie zuhause auf sich allein gestellt ist. Zwar ist ihr Vater da, der leidet allerdings an Wahnvorstellungen. Und ihr Ehemann Pearce befindet sich wegen eines Hotelbauprojektes auf einer fernen Insel. Der perfekte Cocktail für eine stressige Nacht. Als allerdings bei einem Videoanruf aus einem mysteriösen Buch ein magischer Text in einer sakralen Sprache vorgelesen wird, erwachen böse Geister und für Loralyn beginnt das Grauen. Für uns leider schon vorher.

Screenshot aus Night Book. Darstellung der Benutzeroberfläche des Betriebssystems mit vier verschiedenen offenen Fenstern, in denen sich die Charaktere befinden.
Das Bild wechselt oft zwischen dieser Ansicht sowie Nahaufnahmen einzelner Fenster ab

Ich will Night Book zugute halten, dass die Entwicklung des Spiels komplett unter dem Einfluss der aktuellen Pandemie stand. Um aus der Not eine Tugend zu machen, entschied sich das Team von Get Good Media die Handlung komplett auf dem Bildschirm eines Computers wiederzugeben. Videoanrufe stellen Dialoge zwischen den Charakteren dar, ein von Geisterhand gelenktes Sicherheitssystem observiert Szenen innerhalb der Wohnung von Loralyn. Die Schauspieler:innen nahmen ihre Szenen selbst via Zoom in den eigenen vier Wänden auf, um auf diese Weise erhöhten Anforderungen in Sachen Hygiene zu entgehen. Doch die Kulturgeschichte zeigt, dass eng gesteckte Grenzen oftmals die Kreativität von Künstler:innen fördern.

Leider ist eine derartige kreative Herangehensweise an die Umstände bei Night Book abseits der Grundidee nicht erkennbar. Sicherlich ist das Budget kleiner als bei Titeln wie The Bunker oder Late Shift, aber das neue Spiel von Wales Interactive erreicht nie das narrative oder spielerische Niveau dieser oder anderer Titel aus deren Portfolio. Als filmische Handlung ist Night Book im besten Fall öde und entwickelt für eine Horrorgeschichte sehr wenig Spannung. Leider sind zudem die Dialoge sehr inkonsistent geschrieben, Szenen sind an seltsamen Momenten abgeschnitten und die gesamte narrative Struktur vollführt akrobatische Sprünge. Den übelsten Moment erlebte ich bei einer Szene, in der Loralyn vom Tod eines anderen Charakters überrascht wurde, obwohl sie diesen kurz zuvor selber mit angesehen hatte.

Spielerische Dilemma tief in der Nacht

Ein großer Vorteil von FMV-Spielen gegenüber anderen Filmen ist ihre Interaktivität. Wir wählen an gewissen Punkten einen Pfad aus und verändern so den Fortlauf der Handlung. Auf diese Weise entscheiden wir für Loralyn am Anfang direkt als Erstes, ob wir Beruhigungsmittel ins Essen für ihren Vater mischen sollen. Spoiler: Es ist egal. Die meisten Entscheidungen in Night Book haben kaum nennenswerte Einfluss auf den gesamten Ablauf der Handlung, lediglich Schlüsselmomente sind komplett unterschiedlich. Da ist es umso ärgerlicher, dass eine der parallelen Szenen (z.B. Familie vs. Geschäft) und Grundpfeiler der Handlung nicht so organisch wirkt wie die andere. Wahrscheinlich ist dies auch der Grund, weshalb Wales Interactive im Marketing nur auf den “besseren” Plotverlauf Bezug nimmt.

Night Book verpasst aber auch eine große Chance. Ich mag FMV-Adventures, was ich aber mehr mag sind Adventures der Marke Her Story oder Hacknet sowie Emily is Away oder Simulacra. Diese Adventures simulieren eine Benutzeroberfläche auf der wir uns bewegen, Informationen sammeln und mit den Möglichkeiten dieser Oberfläche interagieren. Der spielerische Gehalt dieser Titel ist dementsprechend höher als bei FMV-Titeln. Night Book erschafft in seinem “Film” eine solche Benutzeroberfläche, ist sich dieser möglichen Interaktionen auch bewusst und integriert einige Dokumente via Mails. Leider steuert das Spiel aufgrund seiner filmischen Natur zu diesen Dokumenten hin, eine selbstständige Exploration der zusätzlichen Information wird hier nicht ermöglicht.

Screenshot aus Night Book. Darstellung des "Ending & Statistics"-Bildschirm nach Durchspielen des Spiels. Hier wurden 3 von 15 Enden gefunden, 125 Entscheidungen getroffen und 100 von 223 Szenen betrachtet.
Viel Inhalt ist numerisch vorhanden, aber Unterschiede gibt es nur für Schlüsselmomente

Zu tiefe Fußstapfen für Night Book

So verharrt Night Book in den Fesseln seines Genres, obwohl bereits Titel wie The Shapeshifting Detective oder The Infectious Madness of Dr. Dekker die Möglichkeiten für FMV-Spiele gelungen ausgebaut haben. Aber selbst innerhalb dieser Fesseln wirkt das Horrorspiel zu festgefahren und kann nicht mit vergleichbaren Titeln des Publishers mithalten. The Bunker bspw. hat eine Reihe von Sammelgegenständen in den Leveln versteckt und wirkt stellenweise wie ein Point’n’Click-Adventure. Late Shift hingegen hat eine spannende und abwechslungsreiche Narrative.

Die angesprochenen Probleme während der Produktion im Zuge der pandemischen Weltlage habe ich bereits angesprochen und diese hatte nicht nur auf die Struktur Auswirkungen. Auch die Ausstattung wirkt zuweilen spartanisch und gibt so den Szenen einen klinischen, distanzierten Look. Auffällig wird dies vor allem wegen zweier Settings mit besserer Ausleuchtung und intensiverer Atmosphäre, die im starken Kontrast zum Rest stehen. Auch die Dialoge wirken hier weitaus besser und geben den Charakteren bei ihrem Konflikt Profil. Es machen allerdings alle Schauspieler:innen ihre Sache dem schwachen Drehbuch zum Trotz sehr ordentlich. 

Screenshot aus Night Book. Darstellung eines Chatfensters mit folgendem Dialog:

Loralyn "Looks beautiful x"
Pearce "I miss you..."
Pearce "Good look with your assessment."

Letzter Satz wird auch im schwarz hinterlegten Untertitel wiedergegeben.
Untertitel wiederholen nicht nur gesprochene Worte, sondern auch im Chat geschriebene

Ich habe mir von Night Book erhofft, dass ich einen angenehmen und interessanten Abend mit einer nicht allzu anspruchsvollen Horrorgeschichte verbringen werde. Leider hat mich das Spiel als Vertreter seiner Genres – egal ob als Videospiel oder als Film – auf kompletter Linie ernüchtert. Die Narrative ist schlecht umgesetzt und nur leidlich spannend. Unterdessen hinkt das Gameplay anderen Vertretern des Genres hinterher und beschränkt sich auf das Notwendige, um die Handlung voranzutreiben. Gerade im Katalog der Spiele, die Wales Interactive seit 2016 auf den Markt bringt, wirkt Night Book weit hinter seinen Möglichkeiten. Leider kann ich das Spiel aus diesem Grunde niemandem empfehlen, der FMV oder Horror mag, obwohl Studio und Schauspieler:innen ihr Bestes in Anbetracht der Umstände gegeben haben.

Getestet wurde die PlayStation 4-Version via PlayStation 5 Abwärtskompatibilität. Ein herzlicher Dank geht an Wales Interactive für die Bereitstellung des Mustercodes.