Musik aus einer anderen Welt (Meisterstücke)

Artwork von Returnal. Protagonistin Selene steht im Vordergrund. Im Hintergrund bilden mehrere leere und zerstörte Helme eine Mauer.

Immersion lässt sich in Videospielen auf vielfältige Weise erzeugen. Das Gameplay kann locker flockig von der Hand gehen. Oder die Story durch emotionale und menschliche, spannende und erschreckende Momente in den Bann ziehen. Atmosphäre hingegen ist schwer auf einen einzigen Nenner zu bekommen. Im Gegenteil, oftmals verzahnen sich die unterschiedliche Aspekte zusammen, um ein atmosphärisches Gesamtpaket zu schnüren. Ein solcher Fall trat bei mir die letzten Wochen bei Returnal, dem PlayStation 5-exklusiven Shooter von Housemarque, auf. In einem Level beweist Returnal durch die Einführung eines musikalischen Leitmotivs, die Atmosphäre auf mehreren Ebenen empor zu heben.

Bevor ich mich allerdings dem musikalischen Meisterstück aus Returnal widmen kann, muss ich eine Spoiler-Warnung aussprechen. In den folgenden Abschnitten wird vor allem das Ende von Akt 1 sowie das erste Level danach im Vordergrund stehen. Sowohl spielerisch, als auch narrativ. Zum Ende sowie einer etwaigen Interpretation des gesamten Spiels werde ich nicht kommen. Aber ich werde massiv Inhalte vorwegnehmen, die das erstmalige Erlebnis von Returnal beeinträchtigen können. Wer ohne Kenntnis des Plots an das Spiel herangehen will, sollte daher an dieser Stelle aufhören zu lesen. 

Gefangen in der Zeitschleife von Returnal

Zuerst einmal grundlegendes: Returnal ist ein Third-Person Shooter der Arcade-Spezialist:innen von Housemarque und folgt beim Spieldesign den Fußstapfen von  Rogue-Lites wie beispielsweise Hades, Enter the Gungeon oder Spelunky. Wir schlüpfen in die Rolle der Astronautin Selene, die auf einem mysteriösen Planeten abstürzt und sich einer gefährlichen Flora und Fauna ausgesetzt sieht. Doch als sie stirbt, erwacht Selene wieder an der Unfallstelle und ihre Umgebung hat sich komplett gewandelt. Bei uns im Village gab es bereits erstes Lob für Returnal mit einer grünen Ampel. Ich möchte aber mit euch noch einmal in das Spiel eintauchen und über einen erinnerungswürdigen Abschnitt sprechen.

Returnal ist in insgesamt sechs Abschnitte, sogenannte Biome eingeteilt. Narrativ lassen sich diese auf zwei Akte verteilen, deren Wendepunkt die gesamte Handlung des Spiels auf den Kopf stellt. Mein Meisterstück ist das musikalische Leitmotiv aus Biom 4. Dieses wird im Wendepunkt eingeführt und im Verlauf des Levels mitgetragen, um die unterschiedlichen künstlerischen Aspekte des Spiels miteinander zu verbinden.

Musik als ständiger Begleiter

Akt 1 endete damit, dass Selene vom Planeten fliehen konnte und nach einem langen, erfüllten Leben auf der Erde stirbt. Es stellt sich allerdings heraus, dass der Planet und dessen Fluch sie noch immer in seinen Klauen hält. Erneut erwacht sie an der Unfallstelle ihres Raumschiffes, zurück in ihrem jüngeren Körper. Nur der Planet hat sich komplett gewandelt, aus den Überwucherten Ruinen (Biom 1) wurden die Echoruinen (Biom 4). Während Selene in ihrer Verzweiflung zu versinken droht, die mit der Rückkehr auf den Planeten einhergeht, vernimmt sie eine vertraute Melodie.

In den Erinnerungen an ihre Lebensjahre auf der Erde sieht man in der Szenenmontage unter anderem, wie Selene an einem Klavier sitzt und eine Melodie spielt. Diese Melodie hallt jetzt vereinzelt durch das Biom und ist zentraler Fixpunkt für die Narrative. Die Herkunft der Melodie ist Selenes neues Ziel, in auffindbaren Audiologs hört man andere Versionen von Selene, die bereits durch die Melodie wahnsinnig geworden sind.

Screenshot aus Returnal vom Beginn von Biom 4. Selene folgt einem dunklen, überwucherten Gang. Im Untertitel steht "Selene: the song I was always playing."

Die Notenfolge dieser Melodie lautet C-B-A-G-G, was in den Cutscenes am Klavier deutlich zu sehen und zu hören ist. Innerhalb von Biom 4 wird diese Abfolge im Hintergrund wiederholt, Selene merkt dies zu Beginn auch an mit “This is the song, i was always playing” [deutsch: “Dies ist das Lied, was ich immer gespielt habe”]. Die unregelmäßigen Abstände sowie die ständige Unterbrechung durch Kampfmusik, die dem actionreichen Geschehen eher entspricht, lenken zu Beginn die Aufmerksamkeit von der Melodie weg.

Wenn sich Leitmotive verändern

Obwohl Returnal als Rogue-Lite ein prozedurales Leveldesign pflegt, gibt es bestimmte Abschnitte, die sich bei jedem Durchgang wiederholen. So existiert eine Abzweigung in Biom 4, die einerseits zum Boss führt, andererseits führen zwei Pfade zu Schlüsseln für jene Bosstür. In diesem Zwischenraum ist die Melodie wieder stärker im Fokus, diesmal allerdings als Leitmotiv eines in der Ferne spielenden Orgelstückes. Immer wieder wird die Melodie als Teil des Gesamtwerkes abgespielt, allerdings mit einem winzigen Unterschied: Der letzte Ton fehlt.

Nach der hoffentlich erfolgreichen Schlüsselsuche kehren wir zur Bosstür zurück. Es liegen die letzten Meter zwischen Selene und der Musik, die sie aus ihrem eigenen Leben kennt und sie nun auf dem fremden Planeten verfolgt. Wir betreten das rote Tor und es folgt ein langer Aufstieg einen Turm hinauf. Während zu Beginn auf einem Stück, welches wir von Biom 1 wiedererkennen, noch Gegner warten, verläuft der Aufstieg innerhalb des Turmes ohne Feindkontakt. Stattdessen erwartet uns die Orgelmusik, die sich am etablierten Leitmotiv entlang hangelt und durch den gesamten Turm dröhnt. Je höher wir der Musik kommen, desto lauter wird sie. Orgelmusik war hier in Verbindung mit dem hallenden Klangbild des Turmes eine starke Wahl, um die bedrückende Atmosphäre des Ortes zu verstärken. Und wenn man Kopfhörer auf den Ohren hat, wirkt das 3D Audio der PlayStation 5 hier besonders bedrohlich.

Verzerrte Albträume

An der Spitze angekommen erwartet uns der finale Kampf von Biom 4, während die Orgel in unseren sowie den Ohren von Selene dröhnt. Die Melodie, welcher der Boss spielt und als Leitmotiv für sein Theme wirkt, wird durch die Orgel verzerrt und hat im Kontrast zur Lebenserinnerung von Selene einen Ton weniger. Es bleibt nur ein C-B-A-G übrig, welches auf akustische Weise widerspiegelt, was Selene in diesem Augenblick vorfindet: etwas Vertrautes und doch zugleich Verzerrtes. 

Screenshot aus Returnal. Bild von der Orgel auf dem Turm in Biom 4 aus der Ferne. Untertitel: "Selene: The song is so...loud. I have to silence it."

In der Folge erleben wir wahrscheinlich den akustisch und visuell eindrucksvollsten Boss des gesamten Spiels, der auch spielerisch die größte Abwechslung bietet. Der Boss ist gefesselt an die Orgel und spielt unaufhörlich eine Musik, in der Selenes Melodie wieder und wieder ertönt. Erst unser Einwirken “befreit” ihn. Sein Moveset ist bereits variabel, wenn er an seiner Orgel sitzt. Denn dann schießen unterschiedliche Projektile aus den Orgelpfeifen in einem hohen Bogen auf uns. Losgelöst greift uns der Boss selbst an, ohne direkt in den Nahkampf zu gehen. Dennoch macht er uns aufgrund seiner sehr variablen Angriffe das Leben schwer. In jeder Phase setzt er sich irgendwann wieder zurück an die Orgel und beginnt wieder mit seiner Musik, geprägt vom Leitmotiv. Und wenn irgendwann der Boss besiegt wurde und Stille einkehrt, vernehmen wir leise im Hintergrund ein verschwimmendes Echo jener Melodie in synthetisch-elektrischer Form.

Die vielen Ebenen von Returnals viertem Biom

Der Wandel des Leitmotivs innerhalb dieses Abschnittes zeigt auf, welchen Wandel das Spiel in narrativer Hinsicht vollzieht. Dass Bobby Krlic, Komponist des Soundtracks, aus “Selene’s Theme”, welches in der Montage der Lebenserinnerungen abspielt, die fünf Töne herausstellt, sie innerhalb des Bioms entfremdet und dann als Motiv für das Boss Theme wiederverwertet, unterstreicht dies. Parallel dazu wechselt Returnal den Fokus seiner Handlung von einer rein Plot-getriebenen Story auf eine metaphysische und psychologische Ebene.

Über Returnal selbst bin ich zwiegespalten. Nicht ohne Grund rede ich hier von einem Meisterstück, wenn es um Biom 4 sowie die musikalisch-narrative Parallelität geht. Dieser Abschnitt für mich auch das Highlight in jeglicher Hinsicht vom Spiel dar. Zwar wird auch später die Musik aufgegriffen und die wahre Herkunft der Melodie (teilweise) enthüllt, ansonsten blieb für mich im weiteren Verlauf etwas auf der Strecke. Auch nach diesem Boss ist Returnal kein schlechtes Spiel, aber keines mehr, was mich so beeindruckt hat, wie in diesen Stunden und mit dieser Musik. Das Team von Housemarque sowie die weiteren beteiligten Künstler:innen haben eine beinahe schon einzigartige Erfahrung erschaffen.