Neon White (Review)

Auch wenn mit Jumping Flash! eines der ersten 3D Jump & Runs auf eine Ego-Perspektive gesetzt hat, ist es bis heute sehr unüblich, 3D Jump & Runs aus der Sicht des Protagonisten zu spielen. Dank Mirror’s Edge und einiger Indie-Entwickler haben Hüpfspiele mit in der Ego-Perspektive besonders im Zusammenhang mit Parcours allerdings eine eigene kleine Nische herausgearbeitet. Neon White bietet zusammen mit einem ungewöhnlichen Kartensystem eine einzigartige Arcade-Erfahrung.

In Neon White schlüpft man in die Rolle des gleichnamigen Protagonisten, der unmittelbar vor Spielbeginn verstorben ist. Zu allem Überfluss hat er sich in seinem Leben offenbar nicht zur Zufriedenheit der herrschenden Gottheit verhalten. So steht Neon White ein Leben im feurigen Pfuhl bevor. Doch eine letzte Chance, ein Wettbewerb zwischen allen kürzlich verstorbenen Sündern, bleibt Neon White, um dieses Schicksal noch abzuwenden. Die Geschichte wird wie in einer Visual Novel mit englischer Sprachausgabe und Standbildern der Spielfiguren erzählt und ist ganz außergewöhnlich geschwätzig. Leider rechtfertigt der Inhalt der Geschichte ihren Umfang nicht und das Writing ist auch wenig unterhaltsam. Insofern rate ich dazu, die Geschichte mit einem Druck auf den X-Knopf im Schnelldurchlauf abzuspielen, um sich auf das eigentliche Gameplay zu konzentrieren.

Spielerisch ist Neon White setzt Neon White zunächst auf altbekannte Konventionen des Ego-Shooter Genres. Die Steuerung nutzt das klassische Dual-Stick System, mit RT kann man schießen und mit LB springen. Allerdings hat Neon White keine gewöhnlichen Waffen zur Verfügung, sondern ist von Karten abhängig, die er in den Levels auflesen kann. Derer kann er bis zu drei gleichzeitig tragen und jede Karte kommt mit einer bestimmten Menge an Munition daher. Hat man diese aufgebraucht, zerbricht die Karte. Die neueste Karte ist stets die aktuell ausgewählte Karte.

Die Waffen, die die Karten Neon White zur Verfügung stellen, sind farbcodiert und abgesehen von einer Schnittwaffe, die man automatisch zum Levelstart bei sich trägt, sind die Waffen sämtlich Schusswaffen mit unterschiedlichen Schussfrequenzen, Effektradien, Stärken und Munitionsmengen. Allerdings haben alle Waffen noch eine Zweite Funktion, die man mit LT auslösen kann. Verwendet man den linken Trigger, so wird die aktuelle Karte zerstört und ein entsprechender Effekt ausgelöst, der in aller Regel eine Platforming-Bedeutung hat. So kann man beispielsweise durch die Zerstörung einer grünen Karte einen Stampfer nach unten ausführen, oder durch die Zerstörung einer gelben Karte einen Doppelsprung ausführen. Spätere Waffen erlauben noch spektakulärere athletische Manöver, so dass man sich hoch variabel durch die Level bewegen kann, allerdings immer eng begrenzt dadurch, welche Itemkarten das Spiel einem gerade zur Verfügung stellt.

Die Sorge, dass dieser rapide Wechsel an Fähigkeiten im Zusammenspiel mit den gesammelten Karten schnell unübersichtlich werden könnte, ist zum Glück durch das Leveldesign jedenfalls im Großteil des Spiels unbegründet. Selbst bei rapiden Wechseln haben die Leveldesigner sehr viel Acht darauf gegeben, sicherzustellen, dass man zum rechten Zeitpunkt die notwendigen Mittel zur Verfügung hat, um die aktuelle Aufgabe zu bewältigen. Interessanterweise bedeutet das nicht, dass Neon White stets nur eine Lösung zuließe, denn die allermeisten Level bieten Abkürzungen, die teilweise gar nicht offensichtlich sind, aber die mit den zur Verfügung gestellten Karten dennoch problemlos umgesetzt werden können. In dieser Hinsicht ist das Leveldesign durchausbeeindruckend.

Die Designqualität der Level schwankt meines Erachtens erheblich, wobei Neon White in den besten Momenten ein extrem intensives, hoch unterhaltsames Spiel ist, das den Spieler in hoher Frequenz auf die Probe stellt. Wären alle Level so wie die Spitzenlevel, die ca. ein Drittel des Spiels ausmachen, wäre Neon White ein absoluter Ausnahmetitel, der Pflicht für alle Jump & Run-Freunde wäre. Leider gibt es aber auch die andere Seite: Level, die eine intransparente Wegführung haben, den Spieler mit riesigen zu besiegenden Gegnermengen belästigen oder mit ihrer extremen Länge sehr schlecht zu dem äußerst fragilen Protagonisten passen. Besonders die neunte Welt reiht ein schwaches Level ans andere, so dass ich beim Endgegner am Ende der zehnten Welt schon kurz davorstand, das Spiel abzubrechen – hier kam nämlich noch eine fiese Schwierigkeitsspitze hinzu. Immerhin: Die elfte Welt ist fast durchgehend prima und eliminiert schon konzeptuell das größte Problem der neunten Welt.

In der Konsequenz ist Neon White ein ziemliches Wechselbad der Gefühle. Die üblichen Schwierigkeiten der Ego-Perspektive in Jump & Runs wurden teilweise umschifft, teilweise aber auch in Neon White beibehalten. Gut ist zunächst einmal, dass Neon White einen Schatten hat, der ein punktgenaues Landen, gerade in Anbetracht der hohen Spielgeschwindigkeit überhaupt erst ermöglicht. Das Problem der eingeschränkten Sicht und dadurch erschwerten Wegfindung hingegen wird zwar in vielen Levels durch das Leveldesign komplett kompensiert, in anderen Levels hingegen schlägt dieser Punkt stark nieder und bei den ersten Durchläufen durch die Level kann es schnell dazu kommen, dass man die Orientierung verliert, was in Anbetracht der kurzen Zeitfenster, die das Spiel einem oft bietet, ein gewaltiges Ärgernis ist. Die vergleichsweise kompliziertere Steuerung – im Gegensatz zu einem 3D Jump & Run aus der Third Person Perspektive muss man quasi durchgehend beide Sticks bedienen – wird durch den hochfrequenten und sinnvollen Einsatz der Blickrichtung für Parcours-Fähigkeiten weitgehend kompensiert.

Wie man unschwer herauslesen kann, ist Neon White gut geeignet als Speedrun-Spiel und bietet demnach auch Rankings am Ende eines jeden Levels. Schafft man ein Level einfach, ohne besondere Eile an den Tag gelegt zu haben, erhält man eine Bronze-Medaille. Mit besseren Zeiten kann man Silber-, Gold- und Ace-Medaillen sammeln, die ehrgeizigsten Spieler können sich sogar an den Entwicklerbestzeiten versuchen und so eine rote Ace-Medaille verdienen. Um im Spiel weiterzukommen ist das Sammeln von Medaillen tatsächlich erforderlich. Knapp die Hälfte der Goldmedaillen im Spiel muss man einsacken, um die letzte Welt spielen zu können und auch bis dahin gibt es immer wieder Medaillen-Schranken um im Spiel voranzukommen. Einerseits ist das gut, weil es die Spieler dazu motiviert, sich mit dem Speedrun-Aspekt auseinanderzusetzen, auf den das Spiel offensichtlich optimiert wurde, andererseits kann das weniger geübte Spieler auch frustrieren. Generell sollte man Neon White nur spielen, wenn man mit einer hohen Spielgeschwindigkeit und einem hohen Anspruch an Präzision gut zurechtkommt.

Neon White ist ein konzeptuell überzeugendes 3D Jump & Run, das nur leider unter einer stark schwankenden Levelqualität leidet und den Spieler so zwischen Adrenalin und Entnervtheit schwanken lässt. Für Jump & Run-Fans ist es allein dadurch, dass es hervorragend funktioniert, wenn es funktioniert, ein Pflichtkauf, aber die vielen schwachen Level und insbesondere die Endgegnerkämpfe sorgen dafür, dass ich dem Spiel nur eine Empfehlung für Genrefans aussprechen kann.

Getestet auf Xbox Series X.