Aquadine (Review)

Meerjungfrauen gibt es nicht! Oder vielleicht doch? Vermutlich steckt in jedem Mythos ein Körnchen Wahrheit. Wie die Wahrheit letztlich aussieht, lässt sich wohl nicht immer feststellen. In Aquadine ranken sich unzählige Geschichten um das Meer, um Meerjungfrauen, Sirenen und das Leben am Wasser. Eine lebendige Stadthistorie, bei der alle ihre eigenen Ansichten haben, was nun Wahrheit ist und was Legende. Zumindest ist die Stadt Aquadine seit langer Zeit dem Meer sehr verbunden, ob vor der Küste nun das Meervolk schwimmt oder nicht.

Der junge Gondoliere Ciel lernt die Wahrheit kennen, als er eines Abends den Gesang einer Meerjungfrau hört und sie schließlich findet. Des Nachts träumt er von den unterseeischen Ruinen des antiken Aquadine aus den Legenden, wo ihn eine Stimme davor warnt, sich der Meerjungfrau weiter zu nähern.

Als guter Junge hält sich Ciel daran. Er recherchiert in der schulischen Bibliothek, wo sich die größte Sammlung aquatischer Wissenswerke befindet, sucht die Meerjungfrau aber nicht bewusst wieder auf. Beim Spielen könnte sie dabei fast in Vergessenheit geraten.

Die Stadt Aquadine

Als Visual Novel bietet Aquadine unzählige Hintergründe, die die Stadt aus verschiedenen Winkeln zeigen. Oft sind Blautöne dabei, manchmal durch die nächtliche Stunde, zu der die Charaktere unterwegs sind. Zumeist ist jedoch Wasser zu sehen. Die Schule gleicht einem Aquarium, während die Stadt selbst wie ein zweites Venedig von Wasserstraßen durchzogen ist. Kein Zweifel, Wasser spielt in dieser Stadt eine bedeutende Rolle.

Wir hatten kein so hübsches Schuldach.

Bewohnt wird die Stadt von vielen verschiedenen Persönlichkeiten. Im Zentrum steht Torrie, früher einmal beliebte Gondoliere, die bei allen für gute Laune gesorgt hat. Kaum jemand, der sie nicht kennt und bewundert. Inzwischen leidet sie jedoch unter einer mysteriösen Krankheit, die niemand kennt und heilen kann.

Ihr Sohn Robin wird unentwegt mit ihr verglichen, kann den Ansprüchen der Kundschaft jedoch nicht standhalten. Anders ist die Lage für den charismatischen Ciel, der nicht nur bei den jugendlichen Mädchen in der Stadt und unter den Touristen beliebt ist. Ciel scheint ein würdiger Ersatz zu sein, während Robins Karriere als Gondoliere längst vorbei ist.

Selbst heute noch leidet Robin darunter. In der Stadt ist er ähnlich bekannt wie Ciel, wenn auch deutlich weniger beliebt. In der Schule ist er mit einer einzigen Person seit Kindheitstagen befreundet.

Bis Elisabeth auftaucht.

Die Menschen in der Stadt

Elisabeth ist eine berühmte Sängerin. Und neu in der Klasse. Aus irgendeinem Grund weigert sie sich zu singen, so sehr sie auch dazu gedrängt wird. Dafür backt und isst sie mit Begeisterung. Ihr Bekanntheitsgrad und ihre leicht begriffsstutzige Art bescheren ihr gleich eine Handvoll Freundinnen und Freunde. Irgendwie landet auch Robin in dieser Gruppe, obwohl er sonst eher schlafend oder mit dem Gesicht hinter einem Buch anzutreffen ist.

Mit dabei ist auch Energiebündel Diana. Sie hilft im Café ihrer Familie aus, wo ihre Mutter darauf hofft, sie könnte eine Zukunft mit Ciel haben, der damit dem Geschäft zu noch mehr Bekanntheit verhelfen würde. Ihre mitreißende Art sorgt (neben ein wenig Erpressung) dafür, dass ihre neugefundene Clique bei jedem Abenteuer dabei ist.

Dann wäre da noch Cameron, Fan von Pandas und Kampfsport. Und Gewalt nicht abgeneigt, wenn jemand Mädchen objektifiziert, worunter die Mitglieder des Kampfsport-Clubs der Jungen in der Schule zu leiden haben, den Cameron anleitet. Die Kampfeinlagen werden humoristisch überzogen beschrieben. Allerdings wiederholen sich diese Momente etwas zu oft, wodurch wahrscheinlich auch Personen, die darüber leichter lachen können als ich, irgendwann müde werden.

Das letzte Mitglied der Clique ist Anya. Sie ist klein, zeichnet gern und liebt Katzen. Sehr sympathisch. Sie erschrickt allerdings auch leicht und ihre Freundin Diana zieht sie gern damit auf. Aber das sind eben Freundinnen.

Doch auch die Nebencharaktere haben ihren Charme. Robins Großvater, der von sich in der dritten Person spricht, vielleicht weniger, dafür ist er mir ein wenig zu penetrant. Über Dianas Mutter kann ich mich dagegen sehr amüsieren. Elisabeths treuer Butler Alfred (was für ein einfallsreicher Name!) ist für mich ein kleines Highlight. Genau wie die verfressene Katze Banjo.

Die arme Banjo bekommt nie genug zu fressen!

Die meisten Charaktere treten bereits im Prolog auf. Weiter in die Tiefe taucht Aquadine danach dann auch bei einigen Nebencharakteren.

Hin und wieder hüpfen, wackeln oder zittern die Charaktere auf dem Bildschirm. Eine Weile hat mich das irritiert, irgendwann konnte ich mich aber daran gewöhnen.

Verschiedene Pfade

Nach dem Prolog teilt sich Aquadine in vier Pfade auf. Die Reihenfolge, in der diese Pfade angegangen werden, ist die einzige Entscheidung, die getroffen werden muss. Denn anders als bei klassischen Visual Novels, verläuft die Geschichte in Aquadine linear. Während ich also kürzlich viele Entscheidungen treffen musste, konnte ich mich diesmal entspannt zurücklehnen und einfach nur die Geschichte genießen. Thematisch würde ein Bad dabei zwar passen, aber mit Switch würde ich lieber nicht in der Wanne liegen. Außerdem gibt es zwar einen automatischen Textvorlauf, für mich dauert es jedoch etwas zu lange, bis die nächste Textzeile auftaucht.

Ich wusste schon vorher, was mich erwartet, und habe die Entscheidungsmöglichkeiten auch kaum vermisst. Hilfreich ist dabei das ausgiebige Worldbuilding, das neben den detailliert ausgearbeiteten Charakteren dafür sorgt, dass ich beim bloßen Lesen schon sehr unterhalten wurde. Na gut, ich lese ja ohnehin gern Geschichten, auch wenn ich dabei normalerweise Bücher und keine Konsole in der Hand halte.

Am Lesen wird man bei Aquadine auch nicht vorbeikommen. Vertont sind die Texte nicht, auch wenn die Charaktere vereinzelte Sätze oder Ausrufe äußern. Leider gibt es davon so wenige, dass sich manche zu häufig wiederholen. Ein beruhigendes „Don’t worry“ stört mich dabei allerdings wesentlich weniger als ständiges „Grandpa will speak“. Darüber hinaus ist die tonale Untermalung mit Musik und Soundeffekten allerdings sehr abwechslungsreich. Sogar Gesang gibt es hin und wieder.

Verschiedene Perspektiven

Aquadine folgt den jugendlichen Hauptcharakteren. Im Prolog vorwiegend Ciel und Robin, in den Pfaden später allerdings auch den entsprechenden Charakteren. Somit wird das nicht die Geschichte eines Jungen und seines romantischen Anhängsels, sondern die der Figur, für die ich mich in dem Moment entschieden habe. So tauche ich in die Gedankenwelt verschiedener Charaktere ein und bin auch bei vereinzelten Szenen dabei, in denen nur Nebencharaktere auftreten.

Slice-of-Life trifft auf die üblichen Teenager-Probleme, wie sie in diversen Anime-Serien auch auftreten. Selbst das Schulleben in Aquadine fühlt sich wie im Manga an. Es gibt Clubs, ein Schulfest findet statt. Riesenrad gibt es keines, aber so eine Gondelfahrt kann schließlich auch romantisch sein. Ich konnte mich sehr dabei amüsieren, auch wenn Aquadine nicht mit traurigen Momenten geizt. Aber Tränen sind ja auch Wasser, oder nicht?

Wie sollte es auch anders sein?

In jedem der Pfade treten auch Charaktere auf, die in einem anderen Pfad eine größere Rolle spielen. Mitunter auch solche, deren Begegnung ich nicht erwartet hätte. Das trägt dazu bei, dass sich Aquadine lebendig anfühlt. Schließlich werden die Protagonisten nicht auf einmal aufhören, ihre Freundinnen und Freunde zu treffen oder auf Zufallsbegegnungen zu stoßen, nur weil sie viel mit einer bestimmten Person zu tun haben. Oder eben mit ihren eigenen Problemen und Gedanken beschäftigt sind.

Dadurch, dass die meisten Charaktere nicht viel mit dem Meervolk zu tun haben, gerät die Mythologie von Aquadine die meiste Zeit in den Hintergrund. Gleichzeitig bleibt aber der meeresbezogene Charakter der Stadt immer präsent. Auch darüber hinaus bietet gerade Ciel in seiner Rolle als Fremdenführer viel Hintergrundwissen, das behutsam eingebettet wird.

Jeder der Charaktere hat ein Geheimnis oder etwas, was ihn oder sie beschäftigt. Die meisten Geheimnisse spielen nur in einem Pfad eine Rolle, doch Robins Geheimnis wird jedes Mal von Neuem aufgedeckt. Trotzdem ist die Art und Weise, wie das passiert, jedes Mal anders, so dass hier die Wiederholung nicht ermüdet.

Liebe, wen du willst

Jeder Pfad mündet in einer romantischen Beziehung. Mal mehr, mal weniger überzeugend. Für das wahre Ende spielt nur einer der Pfade eine Rolle, während einzelne Elemente aus den anderen Pfaden etwas untergehen. Die meisten wichtigen Elemente kommen aber zumindest am Rande vor. Vereinzelte Plotfäden gehen jedoch in den Weiten des Meeres völlig verloren und werden nicht aufgelöst.

Vor allem aber betonen verschiedene Charaktere gerne, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen völlig in Ordnung ist, während vehemente Betonungen, nicht schwul zu sein, immer wieder auftreten. Das ist teilweise etwas zu unelegant gelöst.

Mein liebster Pfad ist Dianas. Schon weil der Protagonist schon im Prolog und auch in anderen Pfaden Interesse an ihr zeigt, das ist sehr niedlich. Camerons Pfad dagegen ist bisweilen fast zum Fremdschämen plump.

Man kann ja nie wissen, was die Leute so verbergen!

Am Ende spielt aber auch die Liebe zur eigenen Familie eine große Rolle. Freundschaft. Das Bedürfnis, anderen zu helfen, die einem am Herzen liegen. Die Clique von Aquadine wächst eng zusammen, auch beim wahren Ende.

Das Ende selbst lässt mich ein wenig unzufrieden zurück. Das Finale ist ein wenig zu abrupt für meinen Geschmack, auch wenn ich durchaus nachvollziehen kann, warum es so gewählt wurde. Insgesamt bricht es aber doch zu sehr mit der bisherigen Stimmung der Geschichte, weil Aquadine dem Ende nicht genügend Raum gibt, die Emotionen wieder aufzufangen.

Ab ins Wasser

Aquadine ist SoftColors durchaus gelungenes Debüt. Die Charaktere und insbesondere die Welt sind gut ausgearbeitet, die Charaktere haben viel Charme und Humor. Bisweilen verlieren sie vielleicht ein wenig die Wirkung und werden zu oft wiederholt. Die stimmungsvolle, abwechslungsreiche Musik entschädigt jedoch dafür. Dennoch ist es auch eine traurige Geschichte. Wegen der schwer erkrankten Torrie, Zukunftsängsten, bisweilen sogar Zweifeln am Wert der eigenen Existenz. Doch Freundschaften und Verwandte können viel auffangen, wenn die Charaktere nicht zu sehr davon überzeugt sind, alles allein schaffen zu müssen. Insgesamt hatte ich viel Spaß damit, die Jugendliche auf ihren Abenteuern und beim Erwachsenwerden zu begleiten.

Mehr „Kinetic“ als klassische Visual Novel, schwimmt Aquadine abseits der Reihenfolge der Pfade ohne Entscheidungsfreiheit daher. Die Geschichte ist in sich schlüssig, die Pfade beschäftigen sich intensiv mit ihren Charakteren. Vereinzelte Elemente könnten etwas besser aufgelöst werden, selbst wenn sie durch das wahre Ende obsolet werden, die Geschichten der Charaktere werden aber mit Sorgfalt ausreichend abgeschlossen. Die Texte sind überzeugend, Charaktere haben ihre eigene Stimme, grammatische Fehler sind kaum vorhanden. Das wahre Ende hätte etwas mehr Wasser verdrängen dürfen. Als Gesamtpaket bietet Aquadine jedoch eine warmherzige, wenn auch oft traurige Erfahrung. Ihr solltet bloß aufpassen, wenn ihr nah am Wasser gebaut seid.

Herzlichen Dank an Ratalaika Games für die Bereitstellung des Testmusters. Eingetaucht auf Nintendo Switch.