Neon White (Review)

Artwork und Logo zum Spiel Neon White

»Ein Versuch noch. Ein allerletzter, dann geht es ins Bett!« Berühmte letzte Worte, bevor man sich beim ersten Vogelgezwitscher des neuen Tages endlich ins Bett begibt. Diese Zeiten sind bei mir leider schon lange vorbei. Erwachsenwerden macht halt nicht nur älter, sondern zuweilen auch vernünftiger. Doch wenn es ein Spiel gäbe, was mich wieder in diesen Zustand versetzen könnte, wäre das Neon White. Ich hüpfe, springe und schieße mich durch abstrakt himmlische Welten, immer auf der Jagd nach einer Medaille und der nächsten Bestzeit. Eine beinahe kindliche Freude übermannt mich, wenn ich es nach zahlreichen knappen Versuchen endlich geschafft habe die höchste Auszeichnung im Spiel zu erhalten. Neon White hingegen schaffte dies spielend bei mir.

Himmlisches Neon White

Sünden haben ein Nachspiel. Zu viele Sünden und wir stehen plötzlich auf der Liste des höllischen Einwohnermeldeamtes. Doch dies ist keine Sackgasse, denn der Himmel gewährt jedes Jahr rund um den ominösen Judgement Day einer Gruppe von Toten eine Chance aufs Himmelreich. Diese Gruppe, Neons genannt, treten in der Folge in einem tödlichen Wettstreit gegeneinander an. Wer in den einzelnen Bereichen des Himmels die Flut der Dämonen am besten eindämmen kann, steigt im Rang und sichert sich einen vorübergehenden Platz im Himmel.

Wir erwachen als Neon mit dem Namen White in einem bodenlosen Ozean und erreichen nur mit Müh und Not das rettende Ufer. Doch Neon White hat keine Erinnerungen daran, wie er dorthin gekommen ist und findet sich im rasanten Wettstreit mit anderen Neons wieder, die alle einen Stück vom Himmelskuchen abhaben wollen. Uns bleiben nur zwölf Tage bis zum Judgement Day, um Dämonen zu erledigen und unsere Erinnerungen wiederzuerlangen.

Eine Femme Fatale darf in unserem Afterlife nicht fehlen

Die Story von Neon White ist wahrscheinlich dessen einzige Schwachstelle. Die Hauptgeschichte ist verhältnismäßig langsam und nimmt erst ganz zum Schluss gemeinsam mit vielen Worldbuilding-Aspekten an Fahrt auf. Wenn am Ende viele Dialogzeilen genutzt werden, um Elemente zu etablieren und zu fokussieren, was vorher genauso gut gelungen wäre, wirkt es ein wenig unrund. Denn die Welt von Neon White sowie die Geheimnisse rund um den Judgement Day sind sehr interessant. Es schadet allerdings dem narrativen Pacing.

Allerdings macht Neon White einen sehr guten Job dabei die Charaktere zu etablieren. Neben White gibt es einen sehr kleinen, wiederkehrenden Cast von Charakteren, die alle miteinander im Leben in Verbindung standen. Die daraus resultierenden persönlichen Konflikte im Verlauf der Hauptstory haben mir gefallen, auch wenn sie sicher nicht das Rad neu erfinden. Leider ist hier Neon White aber nicht für jeden geeignet. Manche Dialoge sind schon sehr plump, stellenweise anzüglich, und gerade kleinere Nebenhandlungen stellen größtenteils nur Oberflächlichkeiten ohne große Verbindung zum großen Ganzen dar. 

Ein wahres Fest für Speedster

Neon White wurde im Vorfeld als schneller Ego-Shooter mit Kartenmechanik beworben, zumindest bekam ich diesen Eindruck. Nach meinem erstmaligen Durchspielen und parallel zu meiner Komplettierung würde ich allerdings sagen, das einige Elemente davon einen falschen Eindruck erwecken könnten.

In erster Linie ist Neon White ein Parcour-Jump’n’Run, der sich am ehesten mit Mirror’s Edge und einigen Abschnitten von Titanfall 2 vergleichen lässt. Unsere wichtigste Aufgabe besteht darin ans Ziel des jeweiligen Levels zu kommen und auf dem Weg alle Dämonen zu erledigen. Diese sind über das Level verteilt und sind Hindernis und Gegner, aber auch Werkzeug für die Fortbewegung zugleich. 

So gibt es beispielsweise Ballondämonen, die uns nach oben katapultieren. Verschiedene Gegnertypen lassen bestimmte Waffen fallen, die wir dringend für das Level brauchen zum vorankommen. Und wieder andere gewähren uns mehr Munition. Nur wenige Dämonen sind einzig und alleine dazu da, um unsere drei Herzen auszulöschen. Der Shooter-Aspekt ist somit nicht bloß ein unbefriedigender Zusatz wie bei Mirror’s Edge, aber auch nicht zentraler Fokus wie in Titanfall 2. Eine gesunde Mischung, in der die Action im Dienste des Jump’n’Run-Gameplays steht.

Ein Kartenspiel für Kartenspiel-Muffel

Ein großer Faktor, der diesem Umstand “in die Karten” spielt, sind die Waffen. Standardmäßig zücken wir unsere Katana, das heißt wenn wir nahe eines Ziels stehen, können wir einen kurzen Schwerthieb ausführen. Das kratzt Gegner ein wenig an oder zerstört Truhen mit wichtigem Waffennachschub. Doch dieser Nachschub hilft nicht nur beim Töten der Dämonen, sondern gibt uns eine Reihe von verbrauchbaren Bewegungsmechaniken für das Level. 

Gelbe Pistolen beispielsweise gewähren uns beim Einsatz einen zweiten Sprung in der Luft. Blaue Gewehre ein horizontaler Dash, grüne Maschinengewehre ein Stampfer. Diese Waffen werden als Karten visualisiert und verbrauchen sich entweder nach dem Leeren des Magazins oder dem einmaligen Einsatz der sekundären Fähigkeit. Doch obacht, denn unser Arsenal ist schnell gefüllt. Kluges Einsetzen der Waffen und ihrer Fähigkeiten ist enorm wichtig. Vor allem, wenn wir später die Bestzeiten knacken wollen.

Und so gibt sich eine unglaublich intensive Erfahrung, wenn wir durch die Level sprinten. Gegner, Hindernisse sowie Waffenkarten sind sorgfältig platziert, um auf der einen Seite unerfahrene Spieler langsam heranzuführen, auf der anderen Seite erfahrenen Spielern einen ungemein befriedigenden Flow zu bieten. Zudem strotzen die Level von Neon White vor Kreativität. Wenn man denkt, man hat gefühlt alles gesehen, führt das Spiel neue Mechaniken ein, die den Flow noch einmal steigern. Jederzeit gibt es neue Ideen, sei es von der reinen Mechanik oder von den einzelnen Elementen des Leveldesigns. Und nach einigen Stunden in alte Level zurückkehren fühlt sich plötzlich an, als wäre man der beste Neon jenseits des Himmelsreiches.

Schritt für Schritt zum schnellsten Neon

Neon White versteht es sehr gut, uns langsam aber stetig an höhere Geschwindigkeiten heranzuführen. Jedes Level hat unterschiedliche Zielzeiten, die mit unterschiedlichen Medaillen bedacht werden. Schlagen wir eine dieser Zeiten, erlangen wir Insight über dieses Level und es schalten sich nach und nach Elemente frei, die uns einen wiederholten Besuch schmackhaft machen sollen. Vier Stufen hat dieses Insight: Das erste Level schaltet ein Geschenk, versteckt im Level, frei. Spätere Stufen fügen Hinweise für Abkürzungen sowie einen Ghost unserer Bestzeiten frei. Erst wenn Insight komplett ist, können wir unsere Zeiten mit Spieler:innen weltweit vergleichen.

Doch um neue Hauptlevel in der ersten Hälfte des Spiels freizuschalten, müssen wir uns in den vorangegangenen Parcours gut anstellen. Der Katzen-Engel Mikey gewährt uns nur neue Missionen, wenn wir im Wettbewerb einen bestimmten Rang erreichen. Und dieser ist ebenfalls abhängig davon, welche Art der Medaillen wir freigeschaltet haben. Doch in seinem Himmelsreich gibt es noch andere Aktivitäten. In erster Linie können wir die anderen Charaktere des Spiels treffen und mit ihnen die Zeit verbringen, sofern wir das passende Geschenk in den Leveln gefunden haben. Ein erneuter Besuch lohnt sich also.

Screenshot aus Neon White
Nein, Ghost, nicht so schnell, ich komm nicht hinterher!

Nahezu alle Kontaktpersonen haben ähnlich wie in den Persona-Spielen einen Freundschaftslevel. Je mehr Geschenke und Zeit wir investieren, desto höhere Level schalten wir frei. Leider sind hier die recht oberflächlichen Dialoge enthalten. Allerdings können ungeduldige Menschen diese problemlos im Schnelldurchlauf skippen. Wichtiger sind hingegen Erinnerungen aus unserem alten Leben, die ein viel besseres Licht auf uns sowie unsere Beziehung zu den anderen Charakteren werfen. Zudem gibt es hier vereinzelt Herausforderungslevel, die weniger auf Zeit und mehr thematischer Natur sind. Ein gesamtes Level nur Dashgewehre oder ein gesamtes Level einfach nur überleben. Sie stehen den Hauptleveln auf jeden Fall in keinster Weise nach, daher lohnt es sich Geschenke zu suchen und die zusätzlichen Level freizuschalten.

Neon White mit Stil pfeilschnell in mein Herz

Nach Elden Ring hätte ich gedacht, dass die Luft in der Goty-Sphäre sehr dünn wird und lediglich dem Gott des Krieges ernsthafte Chancen eingeräumt. Doch die ersten Level von Neon White haben mich komplett eingenommen. Das unglaublich motivierende Level- und Missionsdesign trifft auf einen Flow, der genau einen Nerv bei mir trifft. Ich liebe diese hohen Geschwindigkeiten in Verbindung mit dem Platforming aus der Egoperspektive. Sicherlich hätte ich mir in der Story und den Dialogen weniger Oberflächlichkeit gewünscht, aber dennoch stimmt das Gesamtpaket von Neon White.

Spielerisch erfüllt der Titel nahezu alle Kriterien, um zu einem der ganz großen des Indie-Bereichs zu werden. Es macht Spaß und motiviert, hat eine tolle Lernkurve und sehr viel Abwechslung zu bieten. Vor dem Schreiben dieses Textes war ich mir sicher, dass Neon White die Krone 2022 nicht holen kann. Und jetzt zweifle ich wieder. So schnell kann es gehen, wenn man über ein so tolles Spiel schreibt. Und jetzt entschuldigt mich, ich muss noch dringend weitere Medaillen holen!

Gespielt auf PC via Steam.