Lies of P (Review)

Artwork zu Lies of P

Vorletztes Jahr hat mich Elden Ring enorm begeistern können. Es wurde zwar nicht mein persönliches Game of the Year, trotzdem empfinde ich es als eines der wichtigsten Spiele der letzten Jahre. Allgemein für die Industrie, aber speziell für mich persönlich. Seit ich die Stunden in den Zwischenlanden und daraufhin unzählige Stunden mit den Abenteuern anderer verbracht habe, scheint mir die Tür in das bis dahin etwas versperrte Soulsborne-Genre sich langsam zu öffnen. Komplett aufgestoßen hat diese Tür nun allerdings Lies of P. Grund genug, den Titel zu meinem persönlichen Game of the Year 2023 zu küren!

Pinocchio neu erzählt in Lies of P

Bereits mit der Demo setzte ein leichtes Kribbeln ein. Lies of P steht mehr als nur deutlich in der Tradition von Bloodborne, welches neben Elden Ring mein persönlicher From-Favorit ist. Mechaniken, Soundfiles, Spielgefühl – vieles erinnerte mich an den PS4-Exklusivtitel und bereits nach dem ersten Boss wusste ich, dass ich Pinocchios Reise zum Gamepass-Release auf alle Fälle begleiten möchte. Lieber früher als später, am Ende verklagt From Software Neowiz aufgrund von Plagiatsverdacht. Lies of P nimmt sich zahlreiche Elemente aus den unterschiedlichen Titeln des Soulslike-Begründers und immer wieder gibt es Momente, in denen wir auf den Bildschirm zeigen und sagen wollen: “Das kenn ich aber!”

Größter Unterschied bereits von den ersten Minuten an ist die Narrative. Lies of P geht hier anders vor als seine Vorbilder und rückt den Plot mehr in den Fokus. Worldbuilding und Lore sind selbstverständlich auch vorhanden, aber stellen ihrerseits keinen so reichhaltigen Nährboden für Theorien dar, wie es vor allem bei den Dark Souls-Titeln der Fall ist. Dennoch gelingt es Neowiz und Round8 Studios, eine ähnlich mystische und zugleich unbarmherzige Atmosphäre aufzubauen.

Screenshot aus Lies of P
Wo sind wir hier denn hingeraten?

Lies of P orientiert sich grob an The Adventures of Pinoccio von Carlo Collodi, einem Klassiker der Kinderbuch-Literatur. Kindlich ist das Spiel allerdings keinesfalls, denn unser Puppen-Held erwacht in einem düsteren Zugabteil am Gleis des Bahnhofs von Krat. Die Stadt, bekannt für ihr lebensechtes Puppenhandwerk, ist allerdings weit von ihrer Blüte entfernt. Die Menschen leiden unter einer geheimnisvollen Seuche und die Puppen, einst Arbeitskräfte, Beschützer und Entertainer der Bürger, haben eine aggressive Funktionsstörung. Diese können sich nämlich den Asimov’schen Robotergesetzen…ähh… dem Grand Covenant widersetzen und machen Jagd auf alles, was sich bewegt.

Soulslike nach Rezept

Als P, der für diesen Widerwillen und allen voran das Lügen gebaut wurde, machen wir uns auf die Suche nach Antworten. Wir retten dabei nicht nur unseren Erschaffer Geppetto, sondern treffen auch auf ganz besondere Gestalten wie die trickreichen Ganoven Katze und Fuchs. Wer das Original oder seine zahlreichen Iterationen kennt, wird immer wieder mal über die Anpassungen schmunzeln. Gänzlich kann der Plot zwar gerade gegen Ende nicht mehr mithalten, doch die Welt, ihre Figuren sowie all die angedeuteten Möglichkeiten für Nachfolgetitel wussten mich auf alle Fälle zu überzeugen.

Genauso kann auch das Gameplay überzeugen, was allerdings oberflächlich betrachtet sicher an der enormen Nähe zu Soulsbornekiros der Vergangenheit liegt. Pinocchio hat prinzipiell zwei unterschiedliche Möglichkeiten, um mit Gegnern fertig zu werden. In der rechten Hand liegt eine Ein- oder Zweihandwaffe, mit der wir den Löwenanteil von Kämpfen bestreiten. Auf die Besonderheiten hier komme ich später noch zu sprechen, die Grundlage sind aber wie im Genre üblich normale und stärkere Angriffe sowie ein Block.

Der linke Arm hingegen ist in seiner Form beinahe schon Sekiro entsprungen, stellt der doch eine Möglichkeit dar, für einen Abschnitt auf gänzlich neue (und aufwertbare) Fähigkeiten zu setzen. Ein Blitzangriff, ein Feuerschwall, Gift und viel mehr kann als zusätzliche Angriffs- oder Defensivoption verwendet werden. Näher an seiner Vorlage ist kaum eine andere Mechanik von Lies of P.

Screenshot aus Lies of P
Nicht ganz, was die Feuerwehr empflieht

Zugleich hat Lies of P selbstverständlich noch zahlreiche andere “Klischees” des Genres zu bieten. Wurfgegenstände jeglicher Art, temporäre Erweiterungen für die Hauptwaffe und selbstverständlich Ergos – die wortwörtlichen Seelen, welche Puppen ihre Kraft geben. Entscheidende Differenzen finden sich bei diesem Soulslike vor allem im Detail.

Simples Waffencrafting mit großer Wirkung

Auffälligstes Merkmal ist das gesamte Waffensystem von Lies of P. Alle Standardwaffen bestehen aus zwei Teilen: einer Klinge und einem Griff. Diese lassen sich aufteilen und variabel mit anderen Klingen und Griffen verbinden. Ein Dolchgriff für meine Feuerwehraxt? Kein Problem! Ein dünnes Florett an einem massiven Großschwertgriff? Wer es mag… Auf diese Weise ergeben sich im Verlauf des Spieles immer mehr Kombinationen, die nicht nur unseren eigenen Spielstil widerspiegeln sollen. Die Klingen sind hauptsächlich für die Kraft hinter unseren Angriffen zuständig und bestimmen auch die Art des Schadens, der verursacht wird. Griffe variieren hingegen das Angriffsmuster und geben an, mit welchen Werten unser Angriff skalieren kann. 

Gleichzeitig haben Klingen und Griffe jeweils unterschiedliche Sonderfähigkeiten, die sich aufladen und uns unter Umständen aus brenzligen Situationen befreien können. Einen Unterschied machen hier größere Sonderwaffen – vor allem jene, die für Boss-Ergos erhalten können. Diese lassen sich nicht teilen, haben allerdings auch ihre komplett eigene Ressource zum Aufwerten. 

Doch obacht: Gehen eure Klingen durch langen Gebrauch langsam in die Brüche, werden eure Angriffe signifikant schwächer. Unser linker Arm hat für diesen Zweck einen Schleifstein eingebaut, durch den wir jederzeit für Abhilfe sorgen können. Dies mag übermächtig klingen, aber gerade in Kämpfen kann ein solches Problem schnell für Veränderung des Geschehens sorgen. Dies macht meiner Ansicht nach einige Kämpfe dynamischer und situativer.

Aggressivität wird belohnt

Lies of P ermutigt ein solche Dynamik an vielen Fronten. Treffen wir auf Gegner, können wir diese selbstverständlich brachial herausfordern oder vorsichtig agieren. Items oder unser linker Arm unterstützen Angriffe aus der Ferne oder mit Elementarschaden. Wir können um Gegner herumtänzeln oder durch gezielte Blockmanöver ausschalten. Reguläres Blocken sorgt dafür, dass wir weniger Schaden nehmen, können diesen aber entweder durch sofortige Konter wieder heilen oder durch perfektes Timing komplett auf Null setzen. Weil vor allem im späteren Bereich Gegner immer abwechslungsreiche Angriffsmuster und Zeitfenster haben, ist die optimale Mischung sehr wichtig. 

Dies hat aber auch zur Folge, dass Lies of P einige starke Höhen in seiner Schwierigkeit an den Tag legen kann. Vor allem wenn ein Gebiet beispielsweise komplett auf Blitzschaden als ideale Waffe hinarbeitet, der Boss dagegen allerdings resistent ist, kann dies schon frustrierend sein. Ich würde persönlich empfehlen, sich so viele Optionen wie möglich in eurem Kampfstil offen zu halten, um mit allen Dingen fertig zu werden. Anstatt euch lediglich für eine einzige Option zu spezialisieren.

Screenshot aus Lies of P

Dies betrifft auch den Fähigkeitenbaum von Lies of P, die sogenannten P-Organs. Wir sammeln in den Leveln Quartz auf, die wir einsetzen können, um einzelne Verbesserungen freizuschalten. Jede Stufe besteht aus vier Segmenten, allerdings ist ein Segment-Upgrade erst aktiv, wenn dort zwei oder später drei kleinere Verbesserungen freigeschaltet werden. Sind zwei Segmente aktiv, schaltet sich die nächste Stufe frei.

Gleichzeitig sind Verbesserungen in unterschiedliche Kategorien eingeteilt, also komplett auf Angriffsoptimierung gehen ist nicht möglich. Dies erschafft eine gute Balance einerseits, aber regt auch Mitdenken unsererseits an. Wir haben Wahlfreiheit darin, welche Upgrades aus den bisher freigeschalteten Stufen wir aktivieren können, aber falsche Entscheidungen bleiben dauerhaft. 

Ich wünscht’, ich wäre ein echter Junge!

Und falsche Entscheidungen können schnell eine Sackgasse im Spiel bedeuten. Lies of P ist weitestgehend ein sehr lineares Spiel mit einem klar erkennbaren roten Faden, dem wir folgen sollten. Es gibt zwar durchaus Abzweigungen und stellenweise sehr kluge Abkürzungen, aber ultrakomplex ist das Leveldesign eindeutig nicht. Stargazer sind zudem häufig genug vertreten, um wiederholte Wege so kurz wie möglich zu gestalten. Lies of P setzt hier diese Checkpoints nicht punktgenau vor Bosskammern wie beispielsweise Elden Ring. Aber es ist auch sehr weit von den unbarmherzig langen Wegen aus beispielsweise Demon’s Souls entfernt.

Erkunden lohnt sich allerdings sehr in Lies of P, denn abseits der linearen Pfade finden sich zahlreiche kleinere oder größere Herausforderungen. Die Nebenquests sind kleine, aber feine Geschichten, die entweder wertvolle Ressourcen, Waffen oder Schallplatten bieten. Der Soundtrack auf diesen Vinyls ist unglaublich atmosphärisch und es lohnt sich durchaus, dass wir sie sammeln. Denn dazu kommt, dass Pinocchio durch diese Musik und andere Ereignisse Menschlichkeit zurückgewinnt, um ein “rechter Junge” zu werden. Also lügt und musiziert, dass sich die Balken biegen!

Screenshot aus Lies of P
Auf ins Gefecht!

Gänzlich kryptisch sind die Nebenmissionen nicht, da oftmals relevante nächste Schritte über das Teleportations-Menü der Stargazer angemerkt werden. Dies erhöht neben der Plot-fokussierten Narrative deutlich den Zugang zur Welt. Vielleicht reicht aber auch der wundervoll mystische Artstyle sowie die Architektur der Level, um euch zu begeistern? Bei mir hat es geklappt. Diese machen das etwas zu gelenkte Leveldesign für mich sehr wett, gerade weil auch das Gegner- und Bossdesign seine Höhen und Tiefen hat.

I need a hero!

Denn auch diese sind visuell auf vielen Ebenen einfach ein stimmiger Bestandteil dieser Welt. Lies of P spielt für mich auch aus dieser “Gesamtheit” aller Elemente in derselben Liga mit meinen bisherigen From-Favoriten. Vor allem der Bosskampf im Midpoint des Spiels hat es mir sehr angetan – visuell, narrativ, aber auch spielerisch.

Lies of P hat eine große Bandbreite von End- und Zwischenbossen, weshalb die Abwechslung auf alle Fälle garantiert wird. Kapitel-Endbosse bieten uns zudem die Möglichkeit, eine geisterhafte Gestalt als Mitkämpfer zu beschwören. Dieser Spekter macht den ein oder anderen Kampf sehr einfach, bei anderen ist er allerdings relativ sinnlos. Ich sehe diesen auf alle Fälle als Unterstützung an, ähnlich wie bereits in anderen Soulslikes Beschwörungen oder Online-Mitspieler. Balancing ist mit einem solchen Zusatzkämpfer immer etwas schwieriger.

Im späteren Verlauf kommen zudem zu den Puppen Monstrositäten hinzu, die uns alles abverlangen, aber organisch in Welt und Plot passen. Ich habe oftmals während des Spielens gelesen, dass Lies of P beinahe so ein extremes Blockspektakel wie Sekiro wird. Diesen Eindruck kann ich nicht bestätigen, allerdings gibt es einige, stellenweise sehr flotte Bosse mit langen Angriffsketten, die schon stark an die am meisten herausfordernden Bosse aus Elden Ring erinnern. 

Lieber exzellent kopiert als schlecht selbst gemacht

Die Abwechslung bei den Bossen ist allerdings auch notwendig, denn das Standard-Gegnerdesign ist nach wenigen Arealen komplett entschlüsselt. Unterschiedliche Puppenarten, später Monster und dann Puppen mit Monsterfähigkeiten – die Varianz könnte größer sein. Da die Wege zwischen den einzelnen Stargazern oder Abkürzungen relativ kurz sind, fallen diese wiederholenden Gegner kaum ins Gewicht. Sehr schnell nähert sich schon der nächste Bossgegner, der sich uns in den Weg stellt und unser Können auf die Probe stellt.

Auf diese Weise steht Lies of P sicherlich noch hinter der Speerspitze des Genres, aber dennoch als ein würdiger Vertreter vor uns. Lies of P beweist, dass nicht bloß From Software Soulslikes beherrscht. Auch Neowiz und Round 8 haben ein herausforderndes Spiel erschaffen mit einer mystischen Welt voller Geheimnisse und Gefahren. Viele Elemente sind direkt kopiert, andere erweitern das Genre sinnvoll und geben Lies of P eine eigene Identität. Veteranen dürften ihre Freude haben, altbekannte Elemente im Einklang mit neuen Designideen zu erleben. Gleichzeitig ist das Spiel aber auch für Neueinsteiger geeignet, welche Schwierigkeiten darin haben, die vielen Systeme von Soulslikes zu verinnerlichen. Mich persönlich hat es sehr begeistert, da Lies of P in all seinen Facetten vor Liebe und Hingabe zum Genre sowie zum Quellmaterial strotzt. Anders als andere Nicht-From-Soulslikes versteht dieser Titel, was den Ursprung so beliebt und zu einem der wichtigsten Genres auf dem Markt derzeit entwickelt hat.


Meine Menschlichkeit auf Xbox Series X via Gamepass wiederentdeckt. Damit auch ihr eure Menschlichkeit wiederentdecken könnt, zum Abschluss ein Song aus Lies of P performt von der originalen Sängerin Seo Jayeong: