Life Is Strange: True Colors (Review)

Artwork Life Is Strange True Colors

Jede Reise findet irgendwann einen Anfang und wird dabei begleitet von denselben Gefühlen aus Zuversicht und Ungewissheit. Manche Reise ist groß, bedeutend und Welten-verändernd. Andere eher klein, beschaulich und ein Abstecher ins Unbekannte. Das Unbekannte betrete ich immer wieder, wenn ich ein neues Spiel in die Konsole werfe und ein vollkommen neues Abenteuer erlebe. Dieses Mal hat es mich zu Life Is Strange: True Colors hingezogen. Begleitet mich daher in den folgen Abschnitten auf eine Reise in das unbekannte Haven und erkundet mit mir in dieser etwas anderen Review, ob sich der Trip für euch lohnen würde.

Ein neuer Beginn mit Life Is Strange in Kapitel 1

Life Is Strange passt vom Prinzip her perfekt in mein Beuteschema. Ich steh auf Storytelling, das Franchise bietet mir ausreichend davon. Und doch hat mich die Reihe ein wenig verloren. Der Erstling überzeugte mich einerseits mit seinen nachvollziehbaren Charakteren und seiner wirren Zeitmechanik. Andererseits ließ es mich aber am Ende wegen diffuser Entscheidungen ernüchtert zurück. Before the Storm hingegen war nicht diffus, sondern zu einem Großteil einfach nur fade und belanglos. Genauso die Kurzdemo Captain Spirit. Life Is Strange 2 hingegen hat gar nicht bei mir gezündet und bereits beim Start in die zweite Episode das zeitliche gesegnet.

Artwork Life Is Strange (Logo links unten) mit den drei Charakteren Max, Alex und Chloe (von links) in Comicstil.
Kann Alex in die Fußstapfen von Chloe und Max treten?

Dieses Schicksal war dieser Tage Life Is Strange: True Colors nicht beschieden, ganz im Gegenteil! Kapitel 1 entführt uns in ein Adventure, dass ich stellenweise besser einschätzen würde als das Erstlingswerk. Wir schlüpfen in die Rolle der jungen Frau Alex Chen, die nach einem ziemlich bewegten Leben in der kleinen Bergbaustadt Haven ankommt. Denn dort wohnt mittlerweile ihr Bruder Gabe, der sich über die vergangenen Jahre eine neue Existenz aufgebaut hat und Teil seiner eigenen, kleinen Familie geworden ist. Die Geschwister treffen sich nach Jahren wieder, nachdem Gabe einst in eine Jugendhaftanstalt verlegt wurde. Alex hingegen fand währenddessen im Heim heraus, dass sie die Fähigkeit besitzt die Gefühle anderer Menschen zu empfinden.

Und Kapitel 1 wäre nicht der Start ins Abenteuer, wenn wir nicht alsbald am eigenen Leib erfahren, was diese Kräfte für Alex bedeuten. Infiziert vom Hass eines Stadtbewohners verletzt sie kurz nach dem Wiedersehen ihren Bruder. Ein schlechter Start in ein neues Leben, aber ein guter Start in das Adventure, welches spielerisch keine großen Experimente wagt. Deck Nine Games halten das Franchise mit True Colors in ruhigem Gewässer und ändern sehr wenig an der LiS-Formel. Ganz anders hingegen die Story, die gefühlt aus allen Rohren feuert und bis zur letzten Sekunde von Kapitel 1 ein gelungenes, rundes und stellenweise emotionales Werk auf meine PlayStation 5 zaubert. 

Ruhiges Stadtleben in Kapitel 2

Der Vorteil davon, dass Deck Nine und Square Enix das neue Life Is Strange nicht wie vorher als Episodentitel veröffentlicht hat, wird in Kapitel 2 spürbar. Losgelöst vom Zwang zu serieller Gestaltung der Story in jeder einzelnen Episode, stellt sich dieser Abschnitt gänzlich anders dar und fährt nach dem spektakulären Beginn in Kapitel 1 in ruhigere Gefilde. Wie in nahezu allen Stories dieser Welt beginnt hier erst die eigentliche Reise für unsere Heldin Alex.

Endlich wieder vereint!

Die Ereignisse aus Kapitel 1 haben die kleine Stadt Haven und seine Bewohner:innen erschüttert. Alex hingegen hat eine neue Mission und fängt an hinter die Fassade der Stadt zu blicken. Sehr langsam lernt sie ihre mysteriösen Kräfte besser kennen und nutzt diese aus, um kleinere und größere Probleme in der Stadt zu lösen. Diese Stadt besteht für uns allerdings lediglich aus einer einzelnen Straße mitsamt vereinzelten Geschäften und angrenzendem Park. Trotz seiner doch eher kleinen Welt wirkt die Stadt in Life Is Strange sehr belebt und wartet mit zahlreichen Geheimnissen auf uns. Und mancher Gegenstand ist emotional so aufgeladen, dass Alex die damit einhergehenden Erinnerungen der Besitzer aufleben lassen kann. Praktisch.

Das zweite Kapitel erfüllt zwei wichtige Funktionen: Wir lernen unsere Mitmenschen in Haven besser kennen und decken nach und nach die dunklen Geheimnisse der Stadt auf. Wie dunkel diese sind, können wir zum jetzigen Zeitpunkt nur erahnen. Doch es gelingt True Colors sehr gut, das Momentum aus dem starken Anfang mitzunehmen und darauf ein solides Mysterydrama aufzubauen. Und wenn nicht der düstere Schatten über unserer Familie schweben würde, könnten wir in Haven richtig heimisch werden.

(M)ein Wendepunkt

Das dritte Kapitel ist der Mittelpunkt der gesamten Handlung von Life Is Strange: True Colors. Und in der Regel ist dieser Mittel- auch ein Wendepunkt, der die Welt auf irgendeine Weise komplett auf den Kopf stellt. Ich muss zugeben, ich hätte nicht kommen sehen, dass dies nahezu alle Aspekte von Life Is Strange umfassen würde.

Ich mochte Kapitel 1 und 2, sehr sogar. Trotz vieler Klischees, die nahezu jeder Charakter des Spiels mit sich rumschleppt, wirkte das Spiel rund und stimmig. Doch bereits mit der ersten Szene von Kapitel 3 wurde das Spiel eckig und kantig. Keine Sorge, der Artstyle des Spiels, der zeitweise fast wie gemalt wirkt, verändert sich nicht. Auch wenn manche Charaktermodelle etwas steif wirken, macht der Titel optisch einiges her. Nein, ziemlich eckig und kantig wird leider die Story des Spiels.

Legt euch lieber nicht mit Alex‘ neuen besten Freunden an!

Unsere Ermittlungen in der Kleinstadt sowie andere, bedeutende Momente führen dazu, dass Alex fortan ein Trio Infernale mit der DJane Steph sowie dem Ranger Ryan bildet. Gemeinsam versuchen sie den Vorkommnissen in der Stadt auf die Spur zu kommen. Doch leider fällt die Qualität der Dialoge, Charakterzeichnungen und Szenen so rapide bergab, dass für mich in diesem Kapitel gerade der Beginn keinen guten Eindruck hinterlässt. Das Geheimnis von Alex’ Fähigkeiten ist stellenweise keines mehr und wird ziemlich leicht weitergegeben. Bis dann irgendwann in den Ermittlungen ein vermeintlicher Durchbruch erzielt wird, hängt das Spiel ein wenig durch und baut inhaltlich stark ab.

Zahnlose Superkräfte für Life Is Strange

Das Kapitel fängt sich allerdings ein wenig, als Life Is Strange: True Colors versucht Genregrenzen zu überwinden. Eine sehr große (und stellenweise zu lange) Sequenz bringt Rollenspielelemente in das Geschehen hinein. Für den Plot macht es Sinn, setzt aber das Pacing nach dem großen Wendepunkt in der Kriminalgeschichte ein wenig in den Ruhemodus. Inhaltlich sicher nicht verkehrt, da dieser Abschnitt gleichzeitig eine Vorbereitung für den Wendepunkt innerhalb der Kräfte-Plotline darstellt. Aber insgesamt leider viel zu lang.

Ich finde es sehr schade, wie wenig Life Is Strange aus Alex‘ Fähigkeit narrativ macht. Über den Kurs der Handlung sind einige emotionale Storybeats gesetzt, dennoch verliert sich die ethische Dimension hinter dem Wissen um und der Manipulation von Gefühlen anderer Menschen. Vor allem die erste Szene nach dem Rollenspiel zeigt dieses Problem deutlich auf. Wie weit ist Alex bereit zu gehen, um Menschen von ihrem Schmerz zu befreien? Und wie weit darf sie gehen`? Eine zufriedenstellende Antwort bleibt das Spiel narrativ am Ende schuldig. Lediglich für das Finale wird es spielerisch relevant, da hier dieser Punkt ein Element einer Liste von Dingen darstellt, die mutmaßlich unsere Entscheidungen reflektieren sollen. Dies hatte der erste Teil in Nuancen besser hinbekommen.

Eine Prise Rollenspiel darf in der Kleinstadt Haven nicht fehlen

Drohendes Unheil in Kapitel 4

Wenn man sich so viel mit Storytelling beschäftigt, wie ich es die letzten Jahre getan habe, dann spürt man fast schon automatisch, wenn Dinge funktionieren oder irgendwelche Elemente komplett fehlplatziert wirken. Und so beginnt Kapitel 4 damit, dass sich Charaktere nach einem emotionalen Ereignis sehr schnell wieder vertragen. Im Grunde der leichteste Ausweg von Autor:innen, wenn ein kürzlich aufgeworfener Zwist innerhalb kürzester Zeit beinahe mühelos geklärt ist.

Nichtsdestotrotz hat sich Life Is Strange nach dem kurzen Schluckauf zu Beginn des dritten Kapitels wieder gefangen und kann im vierten wieder einige emotionale Glanzpunkte setzen. Diese sind allerdings leicht verpassbar, was ich vom narrativen Punkt her schade fände, aber spielerisch sinnig ist. Ansonsten passiert ein Großteil des Kapitels nicht viel und es baut sich nur sehr behäbig das drohende Unheil auf, was strukturell in der Story nun geschehen sollte. Vor allem die Entwicklung potenzieller, romantischer Beziehungen steht im Vordergrund. Dadurch fallen leider die inneren Konflikte von Alex mit sich und ihren Kräften komplett weg. Stattdessen fokussiert es sich am Schluss des Kapitels rein auf äußere Konflikte.

Die letzten beiden Sequenzen von Life Is Strange treiben das Risiko für unsere Heldin Alex in die Höhe. Denn ihre Ermittlungen haben schlafende Hunde geweckt und diese sind sehr bissig. Erneut stellt sich hier die Frage für uns, ob unsere Kräfte der wirklich richtige Ausweg aus dem Dilemma sind, doch leider scheint auch diese Entscheidung – wie so oft in dieser Art von Spiel – erst in einer Checkliste am Ende wirklich relevant zu werden. Schade, aber soweit keine Überraschung, auch wenn ich mir persönlich mehr wünschen würde vom Genre.

Auf der Zielgeraden

Life Is Strange: True Colors gewinnt auf Seiten des Plots leider keinen Innovationspreis. Sobald wir das letzte Kapitel des Spiels erreicht haben, sind die wichtigsten Dinge eingetreten, die in Geschichten dieses Genres üblich sind. Am Boden der Tatsachen wirkt alles verloren, gefangen in einer schier ausweglosen Situation. Gemeinsam mit Alex lernen wir die Realität zu akzeptieren, so wie sie ist. Und so kehrt Life Is Strange: True Colors in der ersten Hälfte des Kapitels beinahe zu alter Form zurück.

Auch das Finale in diesem Kapitel ist, wenn auch inhaltlich offensichtlich, von zufriedenstellender Art. Leider zeigt sich aber hier eine enorme Schwäche des aufgebauten Entscheidungssystems anhand von Alex‘ Kräften. Deren ethisches Dilemma gelangt an seine Grenzen. Um die potentiell “beste” Variation zu erhalten, in der alle Einwohner:innen von Haven auf unserer Seite stehen, müssen unterschiedliche Entscheidungen getroffen werden, die sich auf Grundlage der moralischen Fragen innerhalb der Spielwelt widersprechen. 

Musik ist ein wichtiger in Teil im Leben von Alex

Problem ist der Versuch dieser Form von Story-Adventures die Entscheidungen innerhalb eines sich verzahnenden Moments darzustellen. Dies führt zu einer Checkliste: Habe ich Entscheidung 1A oder 1B getroffen? Habe ich Entscheidung 2A oder 2B getroffen? Und so weiter…Dies nimmt den Spielen seine Illusion der Freiheit und färbt Entscheidungen schwarz-weiß. Zudem bleibt der Beigeschmack, es gäbe nur “einen richtigen Pfad”, den gerade Geschichten wie diese forcieren. Ich bin sehr gespannt, ob das Genre diese Fesseln irgendwann abstreifen kann, sodass sich jede Form von Ending am Ende organisch zum Geschehen davor verhält. Egal wie gut oder schlecht es ist.

Life Is Strange sucht weiterhin nach seiner Form

Apropos gut oder schlecht: Meine Reise nach Haven war im Endeffekt doch eine weitaus positivere, als ich vor dem Spielen gedacht und mittendrin befürchtet habe. Der Beginn ist stark, die Charaktere – allen voran Alex – gut ausgearbeitet und es macht Lust auf mehr. Leider baut das Spiel narrativ daraufhin ab und auch spielerisch wagt Life Is Strange: True Colors keine Risiken. So bleibt ein prinzipiell vielversprechendes Spiel, dass mich einige Stunden sehr gut unterhalten konnte und somit bei mir besser abschneidet, als Deck Nines letzter Life Is Strange-Ableger. Trotz einiger narrativer Schwächen ist dieser Titel jedem zu empfehlen, der Adventures dieser Art etwas abgewinnen kann.

Gespielt auf PlayStation 5.