
2022 war für mich persönlich ein ungemein starkes Jahr. Ich habe die Zwischenlande beritten. Dämonen in der Hölle gejagt. Oder Superhelden-Gefechte ausgefochten. Was ich aber bereits damals im Jahresrückblick ebenfalls sehr lobend erwähnt habe, war Citizen Sleeper. Gerade für mich als Story-Feinschmecker war die Sci-Fi-Visual Novel ein wahres Festmahl, garniert mit wundervollem Worldbuilding, komplexen Charakteren und vielen philosophischen Themen unter der Oberfläche. Manche dreist auch direkt vor der Nase. Ihr könnt euch daher sicher ausmalen, dass mich die Ankündigung von Citizen Sleeper 2: Starward Vector sehr gefreut hat. Jetzt hat es zwar, anders als ich bei den Most Wanted erwartet habe, ein paar Monate länger gedauert, bis ich wieder in diese Welt zurückkehre. Doch trotz gewisser Startschwierigkeiten zählt auch der Nachfolger zu meinen Highlights in diesem Jahr.
Überleben auf der Flucht in Citizen Sleeper 2
Theoretisch fühlt man sich vom Fleck weg in Citizen Sleeper 2 sehr heimisch. Wir schlüpfen erneut in die Rolle eines namensgebenden Sleepers. Diese Androiden gehören der Firma Essen-Arp und werden mit dem Bewusstsein verzweifelter oder verschuldeter Menschen gefüllt. Kurz gesagt, wir sind ihre Sklaven. Im ersten Teil waren wir auf der Flucht vor dieser Firma und versuchten, uns auf Erlin’s Eye durchzuschlagen. Nicht so leicht, wenn wir weiterhin von einer synthetischen Droge der Firma abhängig sind und Kopfgeldjäger an unseren Fersen kleben.
Auch in Citizen Sleeper 2 befinden wir uns auf der Flucht. Anstelle einer Firma ist allerdings der skrupellose Laine hinter uns her. Der Anführer der Utsubo auf der größeren Raumkolonie Darkside hatte seine ganz eigenen Pläne mit uns. Doch Abhängigkeit ist Abhängigkeit und wir beginnen unsere Flucht mit einem gescheiterten Reboot unserer Sleeper-Systeme. Zwar sind wir nun von der Abhängigkeit durch die Droge und der Kontrolle durch Laine befreit, haben allerdings keinerlei Erinnerungen. Lediglich unser mutmaßlicher Freund Serafin steht an unserer Seite und gemeinsam wagen wir einen Trip in den Starward-Gürtel.

An Bord unseres Raumschiffes beheimatet, versuchen wir fortan eine Crew aufzubauen, um lukrative Aufträge an Land zu ziehen und am Rande des Sonnensystems zu überleben. Immer wieder zugleich mit einem Blick auf unsere Verfolger und der Suche nach einer Möglichkeit, die letzten Fesseln der Unfreiheit abzustreifen. Citizen Sleeper 2 erzählt dabei seine gesamte Handlung in Form von ausgiebigen Visual Novel-Textpassagen. Hin und wieder können wir direkte Entscheidungen treffen, deren Ergebnis auf unseren rudimentären Rollenspiel-Werten basiert.
The friends we made along the way…
Zu Beginn hatte ich ein wenig Probleme, in Citizen Sleeper 2’s Narrative so richtig Fuß zu fassen. Die Gründe retrospektiv betrachtet komplex. Einerseits hat mich die Amnesie gestört. Nicht, weil wir dieses Klischee schon tausende Male in Videospielen durchgekaut haben, sondern weil wir dennoch recht stark in die Verbindung mit Serafin gedrängt werden. Keine Zweifel, keine offenen Fragen. Es steht recht schnell fest, dass wir von Laine nur gemeinsam entkommen können. Serafin mag eine sehr sympathische Person sein, deren Erklärungen stimmig zu sein scheinen. Dennoch ging mir dieses Vertrauen zu glatt und es wartet unter der Oberfläche auch keine tiefere, narrative Ebene.
Andererseits ist Citizen Sleeper 2 zu Beginn stark gelenkt und ich habe ein wenig den Tiefgang in die Welt vermisst, den mir der erste Teil geboten hatte. Wir bauen zwar unsere Crew nach und nach auf und erleben auf diese Weise eine Reihe von unterschiedlichen Perspektiven kennen. Doch erst im Mittelteil nimmt das Worldbuilding wirklich Fahrt auf.
Rückblickend betrachtet hat der zähe Einstieg dabei geholfen, die Charaktere intensiver kennenzulernen und somit unser “Leben” als Kapitän einer Crew stärker anzunehmen. Während Citizen Sleeper die einzelnen moralischen und philosophischen Aspekte des Lebens dieser Welt beleuchtet hat, blickt der zweite Teil eher auf das Leben und seinen Sinn auf der metaphorischen Blaupause der Abenteuer, die wir mit der Crew und auf der Flucht vor Laine erleben. Citizen Sleeper 2 ist somit weitaus weniger anspruchsvoll, aber zugänglicher und qualitativ in meinen Augen genauso gut geschrieben.

Alea iacta est
“Weniger anspruchsvoll” dürfte wahrscheinlich auch das Urteil über die strategischen Gameplay-Momente von Citizen Sleeper 2 sein. Zwar war auch das Ende des ersten Spiels aufgrund des verfügbaren Spieldesigns nicht allzu herausfordernd, doch gerade die erste Hälfte (gefühlt nach meiner Erinnerung, nicht auf den genauen Umfang festnageln bitte) hat unser Überleben auf Erlin’s Eye auf die Probe gestellt.
Das Grundgameplay blieb in Citizen Sleeper 2 blieb unverändert. An jedem neuen Tag erhalten wir fünf Würfel, welche wir für Aktionen innerhalb der Spielwelt verwenden können. Diese bestehen in der Regel aus Auftragsarbeiten, mit denen wir Geld oder andere Ressourcen verdienen können, um die Vorräte unseres Raumschiffes oder unsere eigene Energie aufzufüllen. Jede Aktion hat einen Risikowert, welcher Belohnung und Strafe repräsentiert. Je höher ein Würfel ist, den wir dort anwenden, desto wahrscheinlicher ist der positive Ausgang. Je nach Level unseres Sleepers in den fünf Charaktereigenschaften verändern sich gegebenenfalls die Würfelwerte.
Negative Ergebnisse können unser Energielevel senken, was uns hungern lässt und somit dem “Leben” der Würfel schaden kann. Oder unser Stresslevel steigern, welcher seinerseits Einfluss auf die Lebensdauer der Würfel hat. Ist ein Würfel zerstört, benötigen wir seltene Ressourcen, um diese wieder auf unserem Schiff herstellen zu können. Abgesehen von einzelnen Crew-Aufträgen sowie einem speziellen Story-Event musste ich mir hier allerdings auf dem normalen Schwierigkeitsgrad keine Gedanken machen.
Unterwegs mit unserer Crew in Citizen Sleeper 2
Den größten Unterschied zum ersten Citizen Sleeper dürften definitiv die Crew-Missionen ausmachen. Ob durch Haupt- oder Nebenhandlungen bekommen wir immer wieder einen Auftrag an die Hand gegeben, den wir für bessere Ressourcen oder einfach nur Geld erledigen sollten. Manche bieten nette Nebengeschichten, andere sind mit den Charakteren unserer Crew verknüpft. Spielerisch stellen sie allerdings Drucksituationen dar, die es in der Form erstmals mit Citizen Sleeper 2: Starward Vector gibt.

Wir wählen aus unserem Team bis zu zwei Personen aus, die uns unterstützen sollen. Jede Person hat ihre eigenen Spezialeigenschaften und verfügt ebenso wie wir über Würfel. So kommen an einem Tag noch einmal zweimal zwei Würfeloptionen hinzu, um Auftragsaktionen zu erfüllen. Anders als unsere eigenen Würfel haben die unserer Crew keine Lebenspunkte, die durch erhöhten Stress kaputt gehen können. Stattdessen scheidet eine Person aus, wenn ihr Stresslevel zu hoch ist. Gerade im späteren Verlauf, wenn komplexere Aktionen geplant werden müssen, könnte dies schwieriger werden.
In der Regel sehen die Aufträge allerdings spielerisch immer gleich aus. Wir füllen langsam die Balken von Fortschrittszyklen, welche die Story der Mission vorantreiben. Danach öffnen sich in der Regel neue Aktionen, deren Fortschritt wir ebenfalls hochsetzen müssen. Zusätzlich kann es vorkommen, dass ein Timer im Hintergrund läuft, weil zum Beispiel gegnerische Crews am selben Auftrag arbeiten. Oder ein zusätzliches Stresslevel des Auftrags stellt uns anderweitig unter Druck. In der Theorie ein sehr interessantes Spieldesign, welches uns vor einige Herausforderungen stellen kann.
Eine willkommene Rückkehr mit Mini-Makel
Dass sich Citizen Sleeper 2 dennoch weitestgehend anspruchslos gespielt hat, kann an vielen Faktoren liegen. Einerseits wurde die gesamte Narrative fokussierter, wodurch eine Niederlage kaum Auswirkungen haben darf. Zudem gibt es hier keine alternativen Enden, wie es 2022 noch der Fall war. Natürlich ist auch der Zufall mit den Würfeln als ausschlaggebende Ressource ein Faktor. Zudem glaube ich, hatte ich auch viel Glück, was meine Auswahl der Crew anbelangt. Im Vorfeld einsehbar war zumindest nicht, welche Person bei welcher Mission idealer sein könnte.

Darum bin ich bei Citizen Sleeper 2: Starward Vector hin und her gerissen. Mir gefiel in der Theorie die Änderung die Ergänzung durch fokussierte Missionen, in der Praxis hat sich der Druck selten ausgewirkt. Auch die Narrative, die nur sehr schwer an Fahrt aufnimmt, aber dann gegen Schluss nicht nur spannender, sondern auch “literarischer” wirkt, als beim ersten Teil, lässt mich fast schon unentschlossen zurück. Und doch kann ich jeder Person, die dem Vorgänger Positives abgewinnen konnte, uneingeschränkt zum neuen Abenteuer raten. In der Summe hat Jump Over the Age erneut ein toll geschriebenes, spielerisch leicht optimiertes Spiel erschaffen, welches zwar neue Foki setzt, aber auf diesem Wege auch frisch wirkt und der fantastischen Sci-Fi-Welt der Sleeper-Reihe neue Aspekte entlockt.
Den Sinn meiner Existenz auf Steam Deck und Laptop aufgespürt. Ein herzlicher Dank geht an Jump Over the Age und Fellow Traveller für die Bereitstellung eines Mustercodes.