
Es fühlt sich wie ein endloses Jahrhundert an, seit ich zum Zwecke meiner wissenschaftlichen Abschlussarbeit auf meinem Sofa lag und Virtue’s Last Reward zum zweiten Mal gespielt habe. Heute würde ich die meisten Thesen weitaus präziser, stellenweise differenzierter betrachten und bewerten, aber der Stellenwert, den aus diesem Grunde das Visual Novel eingenommen hat, blieb unverändert. Allen voran das Writing, ob nun auf inhaltlicher Ebene, in der Plotstruktur oder vonseiten der Charaktere, steckt die meisten Videospiele locker in die Tasche. Umso erfreuter bin ich, in ein Frühwerk vom Autoren und Director meines Visual Novel-Lieblings dank des Remasters von Never 7: The End of Infinity reinschnuppern zu können.
Die Glocke des Unheils in Never 7
Als ich damals Virtue’s Last Reward erstmals gespielt habe, begeisterte mich vor allem der inhaltliche Anspruch – allen voran den wissenschaftlichen und philosophischen Thematiken. Nicht allzu verwerflich, wenn man vorher bei Videospielen zwar immer wieder sehr gute Geschichten erleben durfte. Aber nur selten wurden wir als Spielende alleine auf der narrativen Ebene herausgefordert. Kotaro Uchikoshi zeigte diese stilistische Ausrichtung nicht nur bei den ersten beiden Zero Escape-Titeln, sondern auch bei beiden AI: The Somnium Files-Titeln. Umso gespannter bin ich selbstverständlich dieses Jahr auf The Hundred Line: Last Defense Academy, welches er gemeinsam mit Kazutaka Kodaka (u.A. Danganronpa-Reihe) geschrieben hat.
Never 7 ist nach Pepsiman (als 3D-Modellierer) und Memories Off das erste Projekt von Uchikoshi gewesen, welches weitestgehend von ihm alleine geschrieben wurde. Es sind allerdings nur leichte Ansätze in der Geschichte von Never 7 zu erkennen, die ich so an den späteren Werke wertschätze. Dies liegt sicher einerseits daran, dass mit Takumi Nakazawa eine andere Person als Director zuständig für das Endprodukt war. Andererseits ist der höhere Fokus auf die weiblichen Nebencharaktere vonseiten des Publishers eine wirtschaftliche Entscheidung gewesen.

Doch weg von der Geschichtsstunde, hin zu Never 7. Wir folgen hier dem Studenten Makoto Ishihara, der gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Kommilitonen zu einem Seminar Camp auf einer weit entfernten Insel zusammenkommt. Er erwacht am 1. April in seinem Zimmer aus einem fürchterlichen Traum. In diesem lag ein unbekanntes Mädchen mit einem Glöckchen in der Hand tot vor ihm. Doch zum Glück ist es ein Traum. Oder? Oder??!
Zumindest zweifeln wir im Laufe der Tage immer mehr daran. Mal hat Makoto eine Vorahnung, dass die Batterie eines Lastwagens leer ist. Dann erinnert er sich wieder an Szenen und warnt alle anderen vor einem hereinbrechenden Erdbeben. Und es stellt sich nach einer Weile heraus, dass wir wohl dieselben Tage wiederholt erleben. In der Ferne grüßt leise ein Murmeltier.
Zurück in die Vergangenheit
Ich will nicht zu sehr auf die Hintergründe eingehen, wie Makoto in diese Zeitschleife geraten ist. Dies ist schließlich Dreh- und Angelpunkt von Never 7. Zugleich war ich allerdings enttäuscht, wie wenig die Zeitschleife im Fokus der Handlung stand. Vor allem der allererste 1. April, den wir erleben dürfen, streckt sich enorm lang, um den kleinen Cast des Spiels ausgiebig zu zeichnen. Hier und da passieren kleine Vorahnungen von Makoto, aber Never 7 nimmt aus diesem Grunde sehr schwer an Fahrt auf.
Neben Makoto sind die enthusiastische Yuka, der reiche Schnösel Okuhiko und die schüchterne Haruka Teil des Seminars. Dazu treffen wir auf der Insel noch drei weitere Damen, welche das Septett des Spiels komplettieren. Ich mochte weite Teile der Figuren. Allen voran Yuka, mit der ich mein erstes Ende erleben durfte, ist mir sehr ans Herz gewachsen. Doch über die Tage des Seminars schaffen es die Figuren kaum, der Geschichte einen Stempel aufzudrücken. Zudem ist die Narrative sehr fokussiert auf die romantischen bzw. persönlichen Beziehungen seiner Charaktere, ohne dass diese allzu gut geschrieben ist oder ohne übliche Klischees auskommt.
Die Story von Never 7 brilliert vor allem dann, wenn sich Uchikoshi an “tiefere” Thematiken ranwagt. Zwar lassen sich die Hintergründe des Mysteriums eher fantastischen Elementen zuordnen, allerdings blitzt es hier und da bei den Dialogen auf. Aufgrund der allgemeinen Stimmung von Never 7 wirken diese Szenen allerdings oftmals wie ein Bruch im Spiel. Manches Element wirkt stellenweise komplett aus dem Nichts kommend. In solchen Momenten frage ich mich schon, ob es ein so komplexes Thema an dieser Stelle wirklich gebraucht hat.
Mehrere Geschichten in Never 7 ohne Esprit
Und so mäandert das Spiel von Moment zu Moment, die zwar meiner Ansicht nach solide geschrieben sind, aber keine wirklichen Höhepunkte zu bieten hat. Erst wenn es um das Mysterium der Zeitschleife selbst geht, kommt Spannung auf. Größtes Problem ist meiner Ansicht allerdings nach der Hauptcharakter Makoto. Es gibt Momente, da ist er so blass, wie es ein Charakter, in den sich die Spielenden einfühlen sollen, nur sein kann. Und dann verfällt Makoto in eine „alte Schule“ der Maskulinität, die ich eher in die 80er verortet hätte. Zumindest nicht an den Beginn der 2000er. Immer wieder reißt mich so seine Gedankenwelt oder seine von mir nicht gewählten Handlungen aus der Geschichte raus.

Spielerisch ist Never 7 weitestgehend identisch mit dem Genre-Durchschnitt: Texte und Dialoge dominieren das Geschehen vor weitestgehend stillen Hintergründen. Hin und wieder gibt es Entscheidungsmomente, welche den weiteren Pfad bestimmen können. Never 7 verfährt da allerdings höchst kurios. Entscheidungen bestimmen einen Punktwert bei den anderen Charakteren. Je nach Höhe dieser Punkte und Entscheidung in gewissen Schlüsselmomenten biegen wir auf dementsprechende Story-Fäden ab. Leider lassen sich diese Momente zu keinem Zeitpunkt einsehen, lediglich die Speicherdatei beschreibt kurz, auf welchem Pfad wir uns gerade befinden.
Enttäuschung aus der falschen Perspektive
Gerade wenn es sich um ein Remaster eines mittlerweile 25 Jahre alten Spiels handelt, hätte ich mir spielerische Anpassungen erhofft. Mein Gradmesser ist hier die Portierung von Nine Hours, Nine Persons, Nine Doors von 2017, die angelehnt an den Story-Baum von Virtue’s Last Reward einen eben solchen eingebaut bekam. Never 7 ist eine solche Anpassung leider nicht vergönnt. Wenigstens lassen sich große Teile der Story mit einer Anpassung der Einstellungen überspringen, um beim wiederholten Spielen neue Story-Abschnitte kennenzulernen. Zudem gibt es eine ganze Reihe von Quick-Saves und individuellen Speicherpunkten, die gegebenenfalls aushelfen können. Es bleibt allerdings zu konstatieren, dass hier deutlich mehr drin gewesen wäre, um Never 7 zugänglicher zu machen.

Ich kann darum nicht drumherum reden: Gerade weil ich Virtue’s Last Reward und andere spätere Titel des Autoren gespielt habe, enttäuschte mich Never 7. Seine Handschrift blitzt hier und da auf. Gerade wenn es inhaltlich dichter wird, dann funktionieren sowohl die anspruchsvollen, als auch die emotionalen Momente. Aber die meiste Zeit – und dies betrifft vor allem den sehr zähen Anfang über mehrere Ingame-Tage – will die Visual Novel nicht zünden. Ich kann mir gut vorstellen, dass ohne die Kenntnis der späteren Uchikoshi-Titel mein Fazit positiver ausfallen könnte. Denn ansonsten finde ich die Geschichte solide und die Charaktere und Charaktermomente machen oft Spaß. Ernüchternd ist definitiv die Qualität des Remasterings, welches sehr viel Optimierung hat vermissen lassen.
So ist Never 7: The End of Infinity allen voran ein Besuch wert, wenn man sich für historische Portfolios von Größen der Industrie interessiert. Für sich allein stehend glaube ich nicht, dass sich Never 7 umfassend lohnt.
Glöckchen auf Nintendo Switch ins Meer geworfen. Ein herzlicher Dank geht an Mages und Spike Chunsoft für die Bereitstellung eines Mustercodes.