
Wisst ihr noch, was ihr im Sommer 1995 getan habt? Swann und ihre Sommerfreundinnen jedenfalls haben alles vergessen und erinnern sich in Lost Records: Bloom & Rage nach und nach auffallend linear wieder. Da es sich dabei um einen Episodenrelease handelt, habe ich mir bis jetzt nur das halbe Story-Adventure von DON’T NOD Montréal angeschaut. Tape 1: Bloom wechselt zwischen den beiden Zeitebenen 2022 und 1995 und fokussiert sich auf die Freundschaft zwischen Protagonistin Swann und drei weiteren Mädchen. Die vier verbringen einen gemeinsamen Sommer in der fiktiven Kleinstadt Velvet Cove.
Die Rahmenhandlung
Im Sommer 1995 ist irgendetwas vorgefallen, woran sich Swann im Jahre 2022 leider nicht mehr erinnert. Ähnlich geht es auch Autumn, mit der sie damals befreundet war, zu der sie seither jedoch kaum Kontakt hatte. Nachdem ein an die Freundinnengruppe addressiertes Päckchen aufgetaucht ist, ruft Autumn die anderen zusammen, zuerst einmal sind die beiden jedoch nur zu zweit.
Das Päckchen ist mehr Aufhänger für das Treffen als ein tatsächliches Mysterium, das in Tape 1 eine Rolle spielen würde. Ob sich darin etwas von Belang findet, ist letztlich egal. Entsprechend habe ich das gesamte Spiel über auch keinerlei Bedürfnis, mir Gedanken über den Inhalt zu machen. Vielleicht spielt er in Tape 2 eine größere Rolle, aber eigentlich ist es mir auch egal.
Die Handlung in 2022 bietet einen Rahmen für die Geschehnisse in 1995. Während sich die Frauen an den damaligen Sommer erinnern, sprechen sie hin und wieder aus dem Off darüber. Das ist ein netter kleiner Bonus, aber darüber hinaus bietet die Rahmenhandlung kaum Mehrwert. Schließlich ist “damals ist etwas passiert, aber wir wissen nicht, was” nicht unbedingt etwas, wofür ich die Erwachsenen bräuchte. Da es sich bei Lost Records nicht um eine reine Slice-of-Life-Geschichte handelt, ist davon auszugehen, dass irgendetwas passiert ist.
Vor allem aber sind einzelne der englischen Synchronstimmen sehr unpassend. Die erwachsene Swann klingt nicht wie 43, was besonders im Telefongespräch mit ihrer Mutter zu Spielbeginn auffällt. Stattdessen klingt sie wie frisch aus dem Elternhaus ausgezogen.
Am allerschlimmsten an der Rahmenhandlung ist jedoch, dass alle Charaktere Swann optisch viel zu dicht auf den Pelz rücken. Gespielt wird in First Person und Autumn auf der anderen Seite des Tisches ist sehr groß, aber besonders der leicht nach vorn gebeugte Barkeeper steht extrem dicht vor Swann. Etwas mehr Abstand bitte, auch wenn wir schon 2022 haben.

Sommerferien sind nicht endlos
Extra für die Nostalgiker:innen unter euch beginnt der Sommer 1995 in Swanns Jugendzimmer. Ich dagegen habe nicht nur Anfang der 2000er nicht Die Sims gespielt, ich war auch Mitte der 1990er nicht jugendlich. Im Juli ‘95 wollte ich abends nicht ins Bett und habe lieber trockenes Brot als Kekse gegessen.
Swann steht nicht gern im Rampenlicht. Stattdessen ist ihr bester Freund der Camcorder, den ihr Vater ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hat. Damit filmt sie nicht nur ihre (streichelbare!) Katze, sondern ihr gesamtes Zimmer, das vor 90er-Jahre-Referenzen überquillt. Haarige Trollfiguren, elektronische Haustiere, Shows mit Teenagerhexen und ungewöhnlichen Fällen … Es ist deutlich mehr vorhanden, als ich erkennen kann.
Ich konnte schon wenig mit den PlayStation-Referenzen in Astro Bot anfangen. Natürlich ist Lost Records auch einfach die Art Spiel, das irgendwelche Dinge aufheben lässt, die Charakteren oder der Welt mehr Tiefe verleihen. Gleichzeitig fehlt mir manchmal die Verbindung zwischen einem Horrorroman im Spiel und dem Gegenstück, das in den 90ern vielleicht im Trend lag. Komplett ignorieren kann ich es dann auch nicht, wenn ich mich jedes Mal frage, ob etwas eine Referenz ist, und wenn ja, wofür.
Swann jedoch hat gänzlich andere Probleme. Alle Welt hadert mit ihrem Gewicht, der Camcorder ist quasi mit ihrer Hand verwachsen, sie sammelt Dinge in der Natur und ein Umzug steht bevor. Der Camcorder ist es auch, der ihr im Sommer ‘95 neue Feindschaften und Freundschaften beschert. Umso tragischer, dass der Umzug dicht bevorsteht.
Bis dahin jedoch genießt sie mit ihren neu gefundenen Freundinnen einen weitgehend idyllischen Sommer. Bis der Mysteryplot sich träge von seiner Sonnenliege wälzt.

Die Zutaten für ein Musikvideo
Wäre die ganze Sache mit dem Päckchen und dem vergessenen Vorfall nicht, könnte Lost Records – Tape 1 weitgehend 90er-Jahre Slice of Life sein. Mit einer gehörigen Portion Coming of Age. Swann sucht Anschluss zu ihrer frisch gefundenen Clique. Sie schwankt immer dazwischen, ihre eigenen Vorlieben und Interessen zu zeigen oder etwas zu sagen, mit dem sie sich vielleicht besser anpasst. Auch wenn das innerhalb der Auswahlmöglichkeiten im Spiel oft darauf hinausläuft, die Beziehung zu welcher Freundin sie verbessert oder verschlechtert.
Glücklicherweise ist es 1995 fast genauso in Ordnung wie heute, einfach so Leute zu filmen. An einer Stelle wird Swann vorgeworfen, sie sei pervers, aber eigentlich lag die Person nicht im Kamerafokus und überhaupt gehört sie eher zu den Gegenspieler:innen. Sehr vereinzelt fühlen sich Swanns Freundinnen ein wenig unwohl dabei, gefilmt zu werden, aber letztlich werden und bleiben sie trotzdem Freundinnen.
Die Freundinnen bestehen aus Autumn, Nora und Kat. Während Autumn und Nora in einer Garageband ohne viel Bekanntheit Musik machen, schreibt Kat Gedichte. Zu allen drei Jugendlichen kann Swann über unterschiedliche Antworten oder gezielte Auswahl einer Person die Beziehung verbessern oder verschlechtern. An einigen Stellen kann ich auch die Zeit verstreichen und Swann stumm bleiben lassen.
Die rauchende und trinkende Nora mit ihrer ruppigen Art war mir von Anfang an unsympathisch, während Kat lange Zeit eher blass bleibt. Die Band und Noras Wunsch, berühmt zu werden, sorgen für eine einfachere, sofort deutliche Charakterisierung. Mit der Zeit jedoch lernen Swann und ich die drei immer besser kennen. Bald schon planen die vier, ein Musikvideo zu drehen und das Bandprojekt weiter voranzubringen. Mit ihren Fähigkeiten und Hobbys verfügen sie schließlich über alles, was sie dafür benötigen.
Eine Prise Übernatürliches
Über den Sommer hinweg verbringen die vier viel Zeit miteinander und häufig bin ich dabei. Lost Records verwendet einen großen Teil der sechs Stunden, die ich mit Tape 1 verbracht habe, auf die Charakterisierung und das Kennenlernen der Jugendlichen. Wenn nicht gerade spezifische Bands, Bücher oder Filme thematisiert werden, genieße ich die langsam dahinfließenden Sommerferien.
Allerdings bedeutet das umgekehrt auch, dass der Mysteryplot bisher eine sehr kleine Rolle spielt. In den ersten zwei Dritteln der Episode kommen die merkwürdigen Ereignisse nur extrem vereinzelt vor. Gegen Ende nimmt das Mysterium ein wenig an Fahrt auf und sorgt für ein paar optisch ansprechende Szenen. Gleichzeitig gelingt es dem Mysterium bis zu den Credits jedoch nicht, wirklich Neugier zu erwecken.
Während mir die Sommerferienerlebnisse der Clique schon ausreichen würden, ist der flache Mysteryplot dennoch ein Problem. Was passiert, erweckt in mir keinerlei Neugier auf ein größeres Mysterium oder dessen Auflösung.
Zwischendurch wird es auch ein wenig unheimlich, die Gruselelemente halten sich jedoch sehr in Grenzen.

Kamera läuft!
Als Story-Adventure spielt das Gameplay in Lost Records eine untergeordnete Rolle. Swann ist die einzige spielbare Figur und kann verschiedene Dinge aufheben, anschauen und manchmal Gespräche darüber einleiten. Darüber hinaus besitzt sie jedoch auch einen Camcorder, mit dem sie kurze Aufnahmen machen kann. Mehrere Videos zu einer Kategorie ergeben ein Memoire, zu dem Swann über die Aufnahmen einen kleinen Monolog spricht. Die Aufnahmen bestehen dabei aus den Schnipseln, die ich beim Spielen gefilmt habe, was bedeutet, dass sie noch weniger spannend sind, als sie andernfalls sein könnten. Mit mehr Skills wäre es deutlich cooler, meine eigenen Aufnahmen zu sehen.
So filmt Swann beispielsweise für eine Hauptquest verschiedene Bereiche ihres Zimmers, um sich nach dem Umzug daran erinnern zu können. Die Bereiche, die sie filmen kann, tauchen bei gezücktem Camcorder in angedeuteten Rechtecken auf, während die richtige Entfernung durch einen Kreis darin dargestellt wird.
Dann heißt es, auf den Aufnahmeknopf zu drücken und die Kamera einige Sekunden auf das Motiv zu halten. Ein wenig kann ich die Kamera dabei auch bewegen und drehen (sogar mit Bewegungssteuerung!) oder den Zoom einstellen. Gefällt mir ein Clip nicht, kann ich ihn auch erneut drehen und so einzelne Abschnitte innerhalb des Memoires austauschen.
Darüber hinaus nutze ich den Camcorder vorwiegend für Nebenaufgaben. So gilt es, insgesamt fünfzehn verschiedene Vogelarten zu filmen, die ich leider nicht alle gefunden habe. Allerdings macht es auch nicht sonderlich viel Spaß, die Kamera auf einen Vogel zu halten, heranzuzoomen und dann festzustellen, dass ich diesen Vogel bereits gefilmt habe. Auch Graffiti kann Swann filmen, was allerdings für das Filmfeature wenig spannend ist, da keinerlei Bewegung stattfindet. Sekundenlang stillzustehen, ist dann doch eher langweilig. Bei solchen Motiven wären Fotos vielleicht praktischer …

Ein Rätsel!
Wenn Swann durch mich gesteuert nicht filmt, läuft oder Entscheidungen trifft, hebt sie verschiedene Dinge auf. Manchmal nur zum Anschauen, in der Regel jedoch im Zusammenhang mit der Handlung. Mal sucht die Clique einen Schlüssel, mal versuchen sie, einen versperrten Weg zugänglich zu machen. Dafür muss Swann in der Umgebung den richtigen Gegenstand finden, mit dem sie interagieren kann. Meist liegt dann eine ganze Menge Zeug herum, bei dem sie manchmal sogar nachfragen kann, ob es passt. Letztlich läuft es aber doch nur darauf hinaus, die kleinen Interaktionsicons in der Umgebung abzuklappern, bis das richtige Objekt dabei ist.
Ungefähr ein Rätsel gibt es innerhalb von Tape 1 jedoch, das weder besonders originell noch besonders anspruchsvoll ist. Aber dadurch, dass es da ist, fällt es trotzdem auf. Immerhin musste ich mich dafür nicht nur umschauen, sondern mir auch ein paar Kleinigkeiten merken und sie in die richtige Reihenfolge bringen.
Angenehm ist dabei, dass dabei kaum jemand dazwischenfunkt. Es gibt keinerlei gesprochene Hinweise auf die Lösung des Rätsels, die mir aufgedrängt würden, während ich mich noch umschaue. Und das, obwohl in anderen Fällen sogar mehrere Dialoge gleichzeitig ablaufen, gerade wenn die erwachsenen Versionen aus dem Off kommentieren.

Texturen und Frames
Technisch läuft die erste Episode von Lost Records noch nicht ganz rund. Hin und wieder schwankt die Framerate merklich. Deutlich auffallender jedoch sind die vielen nachladenden Texturen. Gerade beim Wechsel von 1995 zu 2022, obwohl sich die Handlung dort auf eine düstere Bar beschränkt. Außerdem wirken einige Animationen eher holprig.
Episodenrelease
Die wahrscheinlich größte Schwäche von Lost Records ist jedoch der Episodenrelease. Vermutlich sollte ich jetzt zwei Monate lang rätseln und Theorien aufstellen. Mache ich allerdings auch in anderen Fällen eher selten. Obwohl ich durchaus meine Freude daran finde, zuzusehen, wie andere vorhandene Informationen sezieren und Theorien aufstellen. Unabhängig davon, ob ich diese für wahrscheinlich oder überhaupt realistisch halte. Aber in diesem Fall verspüre ich kaum Bedürfnis nachzuschauen.
Durch das gemächliche Pacing sind die Geheimnisse einfach nebensächlich. Der Mysterienplot nimmt zwar gegen Ende eine größere Rolle ein, doch der exakte Endpunkt verrät (vermutlich) gleichzeitig zu viel und zu wenig. Es wird zu viel aufgelöst und zu wenig angedeutet, um zum Nachdenken aufzufordern.
Zwar hängt auch ein anderes Ereignis etwas in der Schwebe, das im Zusammenhang mit der Rahmenhandlung auffällig ist. Hier fallen mir tatsächlich auf Anhieb verschiedene Möglichkeiten ein. Aber letztlich stehe ich dabei einfach nur in der Mitte einer Geschichte, die ich eben zwei Monate liegen lasse. Nicht freiwillig (na gut, ich hätte auf die Vervollständigung warten können), aber ich dürste nicht nach einer sofortigen Auflösung.
Gleichzeitig macht gerade die Rahmenhandlung deutlich, dass ich bisher eine halbe Geschichte vor mir habe. Während die Handlung in der Vergangenheit deutlich abgeschlossener ist, so weit das bei einer ersten Episode eben geht, legt die Rahmenhandlung den Fokus darauf, dass ein gewisses Ereignis noch gar nicht geschehen ist.
Letztlich interessiert mich das Mysterium schlicht überhaupt nicht. Auch der Cliffhanger ist da, aber weder schockiert er, noch sorgt er dafür, dass ich sofort wissen will, wie es weitergeht. Sobald der Mysterienplot eine größere Rolle eingenommen hat, habe ich nur noch weitergespielt, weil ich wissen wollte, was für ein Plottwist oder Cliffhanger am Ende noch kommt. Was die zwei Monate Wartezeit auf die nächste Episode rechtfertigt. Nun, jedenfalls kann ich das Spiel bedenkenlos bis April weglegen.

Fazit
Lost Records: Bloom & Rage – Tape 1: Bloom schickt mich in die behaglichen Sommerferien mit einer Jugendclique. Die vier Jugendlichen und die Entwicklung ihrer Freundschaft nehmen viel Raum ein. Was mich zwar freut, gleichezeitig jedoch auch den Mysterienplot schwächeln lässt. Gemessen daran, dass die Rolle der mysteriösen Ereignisse gegen Ende der Episode größer wird, dürfte das Mysterium in Tape 2 deutlich wichtiger werden. Allerdings fällt es bisher noch zu flach aus und funktioniert gleichzeitig für sich genommen zu gut, um echte Neugier auf die gesamten Ausmaße zu erwecken.
Dadurch, dass ich bisher erst ein halbes Spiel gespielt habe und die zweite Hälfte komplett anders aussehen kann, kann ich natürlich kein Gesamtfazit ziehen. Als erste von zwei Episoden allerdings krankt Tape 1 jedoch deutlich am fehlenden Erwecken der Begierde, mehr zu erfahren. In Anbetracht des PS+-Releases werde ich auch Tape 2 spielen. Aber die zweimonatige Wartezeit stört mich nur, weil ich Spiele in den meisten Fällen ohne längere Pausen durchspiele.
Gefilmt auf PlayStation 5 Pro.