
Horizon: Zero Dawn – Spoilerwarnung: Ich erwähne im Text viele Charaktere und Geschehnisse aus dem gesamten Spielverlauf von Horizon: Zero Dawn – Complete Edition.
Ich fange mit dem Offensichtlichen an: Aloy ist ein weiblicher Hauptcharakter. Großartig! Repräsentation! Mit ihr können sich junge Mädchen und Frauen endlich verbunden fühlen. Horizon: Zero Dawn zeigt, dass Frauen einen Wert haben. Dass sie so fähig und so wichtig sind wie Männer, denn Aloy kann kämpfen und die Welt retten. Alles ist super!
Ich möchte das Thema “Frauen in Videospielen” gar nicht anschneiden. Am liebsten würde ich meinen ursprünglichen Plan beibehalten und einfach ein Review zu Guerilla Games‘ Horizon: Zero Dawn schreiben. Das ganze Thema in einem Halbsatz unterbringen und damit für erledigt erklären.
Wobei, das stimmt nicht ganz. Noch viel lieber würde ich die Zeit zurückdrehen. Bis zu diesem schicksalhaften Verkaufsoffenen Sonntag im Oktober, als ich die Complete Edition in einem Regal stehen sah. Dass die Kasse minutenlang nicht besetzt war, war ein Zeichen, das ich nicht hätte ignorieren dürfen.
Denn jetzt kann ich nicht mehr ignorieren.
Alles prasselt auf mich ein. Der Mangel an Protagonistinnen, die ich in den letzten Jahren gespielt habe. Der Mangel an bedeutsamen weiblichen Figuren. Das Ungleichgewicht selbst in Bezug auf Randcharaktere.
Dabei ist das nicht einmal mein Problem mit Horizon: Zero Dawn. An Frauen mangelt es in diesem postapokalyptischen Amerika nicht. Aber Repräsentation ist keine Frage der Spielbarkeit oder Quantität.

Die sterbende Schwester I
Bereits in Mutterherz trifft Aloy auf Erend, mit dem sie ein paar Worte austauscht. Er beleidigt das kleine Örtchen im Nora-Gebiet und lädt sie ein in die große Stadt Meridian. Dort begegnen sie einander erneut; jetzt ist er niedergeschlagen, denn seine Schwester Ersa wurde ermordet.
Doch auf der Suche nach den Mördern stellt sich heraus, dass sie vermutlich doch nicht tot ist. Hurra! Tatsächlich finden sie die Schwester.
Aber damit ist die Quest nicht beendet. Offenbar war sie so stark verletzt, dass sie gerade noch überlebt hat, um mit ihren letzten Worten zu sagen, dass Erend endlich erwachsen werden muss. Sie stirbt in den Armen ihres Bruders.

Aloy übernimmt im weiteren Verlauf die meiste Arbeit auf der Suche nach dem Verantwortlichen für Ersas Tod. Sie finden ihn und Erend ist so erwachsen geworden, dass er ihn nicht umbringt.
Ich war sauer. Erst darauf, dass Ersa nur am Leben war, um kurz darauf dramatisch sterben zu können. Anschließend darauf, dass ihre Bemühungen, den Bösewicht aufzuhalten, darauf reduziert wurden, dass sie nicht wollte, dass ihr Bruder verletzt wird. Dass sie nicht die ehemalige Widerstandskämpferin sein darf, sondern bloß das Opfer, das sterben muss, damit ihr Bruder sich verändert.
Damit ihr Geliebter später Aloy und Ersa vergleichen konnte, weil beide stark seien. Doch warum durfte Ersa ihre Stärke nie zeigen?
Zu allem Überfluss war auch der Bösewicht wütend auf Ersa, weil sie keine Beziehung mit ihm eingehen wollte.
Aber das war nur ein Handlungsstrang. Ein einzelner, überdramatisierter, klischeehafter Handlungsstrang, aber darüber kann ich hinwegsehen.

Die sterbende Schwester II
Später betrat Aloy das DLC-Gebiet. Sie lernte Ourea kennen, die sich mit einer KI verbunden fühlte. Gemeinsam mit ihrem Bruder Aratak und dessen Jägern hatte sie bereits einmal versucht, die KI zu befreien. Zwar scheiterten sie, doch beide überlebten. Dennoch wollte Aratak nicht, dass sie bei einem weiteren Versuch dabei war.
Ich war ein wenig misstrauisch. Ihr Ende erschien mir zu offensichtlich. Natürlich begleitete Ourea Aratak und Aloy. Aber alles ging gut. Bis zum letzten Moment.
Aloy scheiterte daran, einen Kern zu überbrücken. Ourea übernahm das und wurde durch einen starken Stromstoß geschockt. Sie konnte wieder aufstehen. Für ein paar Sekunden. Dann starb sie doch. In den Armen ihres Bruders.
Er war betroffen, natürlich. Da um ihn und Aloy herum alles in Trümmer zerfiel, hatte er keine Zeit für Trauer. Trotzdem konnte er nicht einfach aufstehen. Aloy überredete ihn dazu, zu überleben.

Mit Oureas Tod war der Moment vorbei, in dem sie es geschafft hatte, die KI zu befreien. Die Zeit danach gehörte ihrem Bruder. Mitsamt “Sie hätte nicht gewollt, dass du hier stirbst”. Der arme Mann, er hat seine Schwester verloren. Im Anschluss schützte er mit seinen Jägern die KI.
Ich war nicht wütend. Ich war entrüstet. Aratak hatte mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun. Er hätte draußen warten können. Schließlich wusste jeder, dass Aloy viel besser als er kämpft. Die Befreiung der KI war Oureas Geschichte, es ging um ihre enge Freundin. Stattdessen wurde Aratak in die Handlung hineingezwängt und hat mit seiner Trauer den Fokus auf sich gezogen.
Vala ist eine weitere Schwester, die im Verlauf der Handlung stirbt. Sie ist eines der Opfer des Erprobungs-Massakers. Warum hat Bast keine Familie, aber sie einen Bruder, der sich unbedingt rächen will?

Tote Frauen und Kinder
Da ist ein Mann. Seine Frau und sein Kind sind tot. Wen ich meine?
Dervahl verlor Frau und Tochter und schwor Rache.
Helis’ Frau starb bei der Geburt des gemeinsamen Kindes, das ebenfalls nicht überlebte. Daraufhin verbot er sich jegliche Schwäche.
Rosts Frau wurde umgebracht, seine Tochter entführt und getötet. Er übt Rache aus, kann schließlich nur noch als Ausgestoßener im Heiligen Land verbleiben und bekommt die kleine Aloy aufgedrückt.
Wenigstens ist es nicht Olin. Seine Familie wurde entführt, überlebt aber. Sein Kind ist ein Sohn.
So viele Frauen und Kinder (Töchter oder unspezifiziert), die als Randnotiz tot sind. Die oft abgeschoben werden in optionale Texte oder Gespräche. Namenlose Frauen und Kinder. Bis auf Rosts Tochter Alana. Zu viele Frauen und Kinder, die als Teil der Vorgeschichte und Charaktermotivation von Männern tot sind.
Das geht so nicht.

Dervahls Vorgeschichte habe ich erfahren, kurz nachdem Ersa tot war. Ich war fassungslos, während ich zuhörte und mir langsam klar wurde, dass seine Familie tot sein muss. Nicht, weil mir irgendjemand von ihnen leidgetan hätte. Sondern weil das eine billige und überbeanspruchte Motivation ist. Seine Frau und Tochter durften kurz reden, singen und lachen. Eigentlich waren sie längst tot. Sie existierten nur, um tot zu sein. Damit Dervahl nach Rache dürsten konnte. Das kann man doch nicht ernsthaft als kleines Storyelement beiläufig in eine Tonnachricht packen und hinterher mit der Haupthandlung weitermachen, als wäre nichts. Stattdessen war er nur der erste einer ganzen Reihe.
Als Aloy endlich über Rost und seinen Status als Ausgestoßener sprechen konnte, war ich nicht mehr überrascht. Schließlich hatte ich schon Oureas Tod richtig vorausgesagt. Ich war in einem Textausschnitt über Helis’ tote Frau gestolpert, die so hart gewesen war wie er, bevor sie starb. Mir war auch nicht entgangen, dass das große Sonnenreich ausschließlich von Männern regiert wurde und das Nora-Matriarchat mit Hang zur Gleichberechtigung schnell bedeutungslos war. Dass Personen wie Kriegsherrin Sona oder Agentin Vanasha doch eine Ausnahme bleiben, weil Charaktere wie Erend, Avad, Teb, Varl, Olin und Sylens wesentlich mehr Raum einnehmen. Dass Sylens unbedingt Aloy aus dem Sonnenring retten musste, obwohl sie die Situation genau wie ich im Griff hatte.
Also hatte auch Rost eine tote Familie. Warum so ein großes Geheimnis daraus machen? Das ist nichts, wofür ich nach vielen Stunden Spielzeit noch denke, dass das furchtbar tragisch ist. Dass das alles erklärt, was Rost betrifft. Seine sechsjährige Tochter Alana war nur dazu da, tot zu sein.

Ich war gut darin, über Dinge hinwegzusehen. Sie zu ignorieren. Aber mit Horizon: Zero Dawn habe ich den Punkt erreicht, an dem ich das nicht mehr kann.
Ja, es sterben auch Männer. Mini-Gegenspieler Bast, Oberbösewicht Helis, optional ein erpresster Mann, den ich habe überleben lassen, Rost. Der nur stirbt, weil das als Mentor so üblich ist. Athral in einer kleinen Nebenquest, der immerhin fast so dramatisch stirbt wie Ersa. Die „Alten“ sind natürlich alle tot, Frauen wie Männer.
Aber die Menge an Frauen, die ohne Gesicht und ohne Namen bleiben, die schon vor der Geschichte tot sind und kaum überhaupt beschrieben werden. Und wenn, dann gerade so viel für ein billiges Drama. Die tot sind, während ihre Partner weiterleben. Die einzig als Motivation für Rache dienen.
Es sind zu viele.
Dafür sind Frauen in Horizon: Zero Dawn da: Sie sterben. Oder sie sind bereits tot. Überleben ist eine Sache der Männer. Durch den Tod ihrer Schwestern, ihrer Partnerinnen und ihrer Töchter können sie charakterlich wachsen. Nicht einmal ihr eigener Tod gehört diesen Frauen. Wird ihr Leben beschrieben, dann in Bezug darauf, was ihre Partner verloren haben.

Geister
Es ist ermüdend. Horizon: Zero Dawn ist bei Weitem nicht das einzige Spiel mit toten Frauen in den Hintergrundgeschichten der männlichen Charaktere. Doch ich ziehe ganz bewusst keine Vergleiche. Die drei Frauen, die von ihren Partnern überlebt wurden, müssen nicht mit weiblichen Figuren in anderen Spielen in einen Wettbewerb treten, sondern haben ein unabhängiges Anrecht auf Aufmerksamkeit. Die Gesamtheit der irgendwo im Hintergrund erwähnten Frauen muss nicht gegen diejenigen in anderen Spielen aufgewogen werden. Doch wenn die Protagonistin massenhaft Metallmonster massakrieren kann, dann sollte nicht der typische weibliche Charakter hilfsbedürftig oder tot sein, während das männliche Umfeld überlebt.
Ich will nicht verbittert auf Videospiele schauen und jede weibliche Figur sehen, die mit ein paar dahingeworfenen Worten die Hintergrundgeschichte eines männlichen Charakters bereichert, ohne ihre eigene Geschichte haben zu dürfen. Oder dass ihre Geschichte nach ihrem Tod bedeutungslos wird.

Es sollte nicht so selbstverständlich sein, dass tote weibliche Charaktere die Hintergrundgeschichten von männlichen Charakteren füllen.
Ich will nicht sagen, dass das Thema jedes Mal angesprochen werden muss. Selbst jetzt noch will ich diesen Artikel löschen. So tun, als wäre mir nichts aufgefallen. Was habe ich schon davon, hinzusehen?
Alana, ihre Mutter und die anderen Opfer sollten keine bloße Randnotiz sein. Ich kann sie nicht ins Rampenlicht ziehen, weil sie schlicht kaum Charakter bekommen haben. Weil sie nie die Chance dazu hatten, sich zu zeigen. Sie waren von Anfang an dazu verdammt, Geister zu sein.
Jetzt suchen sie auch mich heim.