
Lange nach dem Erscheinen des Nintendo 64 hat Nintendo den Vorgänger Super Nintendo noch unterstützt. Eines der letzten Spiele für die in die Tage gekommene 2D-Konsole war Fire Emblem Thracia 776, das zunächst nur in episodischer Form für Download-Module angeboten wurde und erst nach einiger Zeit auch als Standardprodukt den Weg in den japanischen Einzelhandel geschafft hat. Europa blieb Thracia 776, wie alle Fire Emblems zuvor, verwehrt, doch dank einer hochwertigen Fanübersetzung ist das Spiel mittlerweile auch im Westen spielbar. Das japanische Original ist als Teil des Nintendo Online-Services verfügbar und kann auch als deutscher Abonnent über die japanische SNES-Applikation gestartet werden. Wer die Story verstehen möchte, sollte sich aber einen Ausdruck der Fanübersetzung bereithalten – sofern man nicht selbst des Japanischen mächtig ist.
Fire Emblem Thracia 776 ist eines von nur wenigen Fire Emblem-Spielen, die unmittelbar an ihren Vorgänger anschließen. In Thracia 776 ist die Situation aber noch spezieller, denn Thracia setzt nicht etwa die Geschichte des Vorgängers Genealogy of the Holy War fort, sondern spielt mitten in dem Vorgänger. Thracia 776 erzählt aus der Perspektive von Lord Leif die Flucht vor den Kinderjaagden, die in dem Zeitsprung von der Eltern- zur Kindergeneration in Genealogy of the Holy War stattgefunden hat, just im titelgebenden Jahr 776. Entsprechend gibt es zwar einige Überschneidungen in den Charakteren zwischen den beiden Spielen, aber die wichtigsten Figuren von Genealogy of the Holy War spielen in Thracia 776 bestenfalls eine Nebenrolle. Die Geschichte funktioniert als Interquel in einer der intensivsten Fire Emblem-Geschichten in jedem Fall gut, und kann – abseits vom Ende, das sehr deutlich an die zweite Spielhälfte von Genealogy of the Holy War anschließt – auch gut für sich allein stehen.

Trotz der erzählerischen Nähe zu Genealogy of the Holy War haben die Entwickler von Intelligent Systems, letztmalig unter der Leitung von Serienerfinder Kaga, sich spielerisch nicht auf die faule Haut gelegt, sondern im Grunde jeden Aspekt des Spiels angefasst und teilweise drastisch modifiziert. Direkt fällt auf, dass die enorme Kartengröße des Vorgängers der Vergangenheit angehört, stattdessen weisen die Karten die kompakten Dimensionen der Game Boy Advance-Fire Emblems auf. Auch wenn die Größe der Karten in Genealogy einen gewissen Eindruck hinterlassen haben, ist diese Änderung spielerisch eine klare Verbesserung, weil lange ereignisarme Märsche über die Karte in Thracia 776 der Vergangenheit angehören. Im Gegenzug gibt es diesmal 25 Hauptkarten und eine Reihe von Gaiden-Kapiteln, der Umfang leidet unter dieser Entscheidung also nicht. Wer aber alle Gaiden-Kapitel spielen möchte, der wird ohne Guide oder mehrere Durchläufe Schwierigkeiten haben, denn die Bedingungen für die Gaiden Kapitel sind teilweise ziemlich kompliziert und obendrein intransparent. Eine ungünstige Kombination. Da es zudem an einer Stelle im Spiel zwei parallele Wege mit verschiedenen Karten gibt, wird man um einen zweiten Durchlauf so und so nicht umhin kommen, wenn man wirklich alles im Spiel sehen möchte.
Bei einer oberflächlichen Betrachtung könnte man meinen, dass Fire Emblem Thracia 776, aus Sicht westlicher Spieler, die mit den Game Boy Advance-Teilen in die Reihe gestartet sind, das am wenigsten besondere Fire Emblem ist, denn sowohl Optik als auch Struktur, Grundmechaniken inklusive Waffendreieck und Kartengröße sind sehr nah an den GBA-Spielen. Doch Fire Emblem Thracia 776 ist im Kleinen enorm experimentierfreudig, mit einem großen Einfluss auf die Gesamtspielerfahrung. Schon früh im Spiel macht man mit dem neuen Feature Fog of War Bekanntschaft, das seit Thracia 776 immer mal wieder für einzelne Missionen in Fire Emblem-Spielen Verwendung findet, aber nie so gnadenlos umgesetzt wurde wie in Thracia. Die Sichtweite um die eigenen Einheiten ist sehr eingeschränkt und kann nur mit Fackeln vergrößert werden. Verborgen bleiben nicht nur die gegnerischen Einheiten, sondern gleich die gesamte Karte außerhalb des Sichtfeldes, man kann also, außer indem man ein wenig mit dem Bewegungsradius der Figuren herumspielt, nichts über die Felder im mittleren Umkreis um die eigene Position sagen. Im Zusammenspiel mit gegnerischen Einheiten, die dieser Einschränkung nicht unterliegen und obendrein Nachschubeinheiten, die im selben Zug, in dem sie erscheinen, auch ziehen dürfen, können die Fog of War-Karten eine Menge Frust bedeuten.

Ganz entscheidend für den gesamten Spielablauf ist aber der Umstand, dass man in Fire Emblem Thracia 776 kein Geld für gewonnene Kämpfe erhält, sondern Geld nur über den Verkauf von Waffen und Items gewinnen kann. Da Waffen wie gehabt eine beschränkte Nutzbarkeit haben, bevor sie brechen und – immerhin – zwar im Menü verbleiben, aber nur noch einen Bruchteil ihres vorherigen Schadens ausrichten, ist der Verkauf von Waffen aber keine ideale Weise um an Geld zu gelangen. Entsprechend wichtig sind Diebe, die die zahlreichen Truhen im Spiel mit Dietrichen plündern und gegnerische Einheiten um wertvolle Items erleichtern können. Eine Thracia-exklusive Mechanik gewinnt hierdurch aber noch viel mehr an Bedeutung: Das Gefangennehmen gegnerischer Einheiten.
Wenn man einen Gegner angreift, der wahlweise keine Angriffswaffen trägt oder einen niedrigeren Konstitutionswert hat, als man selbst, kann man den Gegner statt ihn anzugreifen auch gefangennehmen. Versucht man sich an einer Gefangennahme, wird der eigene Angriffswert drastisch reduziert und die Gefangennahme gelingt nur, wenn man in seinem Angriff sämtliche Lebensenergie des Gegners aufbraucht – eine nicht gerade günstige Kombination von Voraussetzungen. Gelingt es eine, eine gegnerische Einheit gefangenzunehmen, wird die eigene Einheit zudem in allen Werten so lange deutlich geschwächt, wie die gegnerische Einheit in der Gewalt der eigenen Einheit ist. Man sollte von dieser Option also nur Gebrauch machen, wenn man seine eigene Einheit anschließend einigermaßen sicher vor gegnerischen Angriffen schützen kann.

Doch wozu dient die Gefangennahme? Einerseits kann man so natürlich, jedenfalls aus erzählerischer Perspektive, gegnerische Einheiten besiegen, ohne sie zu töten. Ein beinahe pazifistischer Run durch das Spiel dürfte möglich, wenn auch enorm schwierig sein. Doch es gibt handfeste spielerische Gründe, wieso man reichlich Gebrauch von dieser Option machen sollte, denn in der nächsten Runde kann man der gefangenen Einheit sämtliche Items per „Tausch“ abnehmen, bevor man sie in die Freiheit entlässt. In manchen Situationen kann man eine Spielfigur zudem rekrutieren, indem man sie bis zum Ende der Karte in Gefangenschaft bewahrt. Dank des eklatanten Waffen-Mangels im Spiel, sollte man sich schnell Strategien bereit legen, um neben dem Erreichen der Hauptziele einer jeden Mission auch reichlich gegnerische Einheiten gefangen zu nehmen und zu plündern, sonst besteht eine reale Gefahr, irgendwann ohne brauchbare Waffen dazustehen und das Spiel effektiv zu verlieren. Immerhin, in der Konsequenz sind ausgerechnet Heilmöglichkeiten in enorm hoher Zahl verfügbar. Im Gegenzug können Stabaktionen auch schiefgehen, was üblicherweise fatale Auswirkungen hat.
Überhaupt ist der Einfluss des Zufallsfaktors bei Thracia 776, zumal vor der Einführung der doppelten Würfel, die die Trefferwahrscheinlichkeiten effektiv quadratisch verbessern, außergewöhnlich entscheidend. Das Spiel wirft den Spieler immer wieder in Situationen, wo es ganz entscheidend ist, dass viele eigene Einheiten einen hohen Avoid-Wert haben und dadurch oftmals nicht getroffen werden. Manche Situationen sind sogar so gestaltet, dass das Überleben einzelner Spielfiguren qua Design am Zufall hängt. Diese Situationen sind zwar zum Glück stets am Anfang einer Mission angesiedelt, stören die Spielerfahrung in meinen Augen aber erheblich.

Doch damit nicht genug, es gibt noch eine weitere Mechanik, die es nur in Thracia 776 geschafft hat, die die Intensität des Spiels deutlich erhöht: Die Erschöpfung. Jede Aktion kostet die eigenen Einheiten einen Erschöpfungspunkt und sobald eine Einheit mehr Erschöpfungspunkte als KP hat, muss sie eine Schlacht lang aussetzen, sofern man nicht einen Revitalisierungstrank besitzt, die aber äußerst selten sind. Glücklicherweise wird nach einer Runde, die eine Einheit nicht eingesetzt wurde, der Erschöpfungswert immer auf 0 zurückgesetzt. Die Mechanik sorgt dafür, dass man sehr bewusst in seiner Wahl der aktiven Einheiten sein muss und jede Rolle im Grunde doppelt besetzen muss. Insgesamt ist der Effekt der Mechanik meines Erachtens positiv, was mich erstaunt hat, aber da die Erholung von der Erschöpfung in nur einer Runde erfolgt, kann man schon sehr großzügig um die Mechanik planen, sofern man bei der Aufstellung seiner Einheiten darauf achtet, sich nicht allzu sehr auf einzelne Überflieger zu verlassen.
Eine besondere Stärke von Fire Emblem Thracia 776 ist das enorm abwechslungsreiche Mapdesign, das alle vorherigen Fire Emblems deutlich in den Schatten stellt. Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass es eine Reihe verschiedener Missionsziele gibt – das bekannte „Erobern“, wo die Hauptfigur eine bestimmte Position einnehmen muss – die Flucht – wo alle Einheiten von der Karte fliehen müssen (als letztes die Hauptfigur), oder auch die Verteidigung, wo man für eine bestimmte Zahl an Runden überleben muss. Neben diesen verschiedenen Hauptzielen gibt es immer wieder kleine Nebenziele, die nicht zwingend erfüllt werden müssen, aber den Karten eine andere Dynamik geben. In Sachen Abwechslungsreichtum und strategischer Varianz ist Thracia 776 ein bedeutender Schritt nach vorn von Genealogy of the Holy War und wird auch nur von wenigen modernen Fire Emblem-Spielen übertrumpft.

Technisch ist Fire Emblem Thracia 776 makellos und hat eine markante SNES-Optik, die aber trotz der späten Veröffentlichung des Spiels nicht mit den beeindruckendsten SNES-RPGs mithalten kann. Es ist auffällig, dass sogar in Hinsicht auf die Charakter-Porträts von Endgegnern gespart wurde und Charakter-Porträts für verschiedene Endgegner im Spiel verwendet werden. Das ist kein erhebliches Problem, aber schon etwas unelegant. Musikalisch wird gewohnte Kost geboten, die Musik passt gut zum Spiel und ist teilweise auch eingängig.
Fire Emblem Thracia 776 ist ein anspruchsvolles, teilweise aber leider auch unnötig frustrierendes SRPG, das in meinen Augen trotz augenscheinlicher Nähe zu modernen Fire Emblems durch viele kleine und große Experimente wohl das interessanteste Fire Emblem der NES- und SNES-Ära ist. Serien- und Genre-Fans sollten Thracia 776 auf jeden Fall spielen, alle anderen werden, etwas Frusttoleranz vorausgesetzt, ebenfalls sehr gut unterhalten.

Getestet auf SNES.