Digimon Story Time Stranger (Review)

Digimon hat seit jeher einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen. Schließlich waren die auserwählten Kinder im Anime damals nicht nur genau so alt wie ich, sondern sie begannen ihre unfreiwillige Reise in die Digiwelt auch noch exakt an meinem Geburtstag. Eine Flucht in die digitale Welt voller Monster und Abenteuer war alles, was mein Herz damals begehrt hat. Umso glücklicher war ich, als ich vor einigen Monaten das Angebot von der Redaktion bekam, den neuesten Ableger der Reihe zu testen.

Leb‘ deinen Traum

Digimon Story Time Stranger macht seinem Namen alle Ehre. Es legt, wie der Name schon sagt, einen großen Fokus auf die Geschichte und inszeniert sich dabei deutlich cineastischer, als die Serie es je zuvor getan hat. Stellenweise fühlt man sich immer wieder so, als würde man einen Digimon Anime schauen bzw. darin mitspielen. Die Titlecard des Spiels lief bei mir erst nach rund sieben Stunden über den Bildschirm und fühlte sich schon zu diesem Zeitpunkt sehr verdient an. Ich hatte ja keine Ahnung, was mich alles erwarten würde.

Wir spielen eine:n Agent:In von ADAMAS – eine Organisation, die Anomalien untersucht, die mit sogenannten Phasenelektronen-Lebensformen in Verbindung stehen. Natürlich handelt es sich dabei um Digimon, die womöglich der wahre Kern hinter zahlreichen urbanen Legenden und Sichtungen von Kryptiden sind. Unsere Untersuchungen führen uns schon bald in den Mittelpunkt einer Katastrophe, die den Untergang der Menschheit bedeuten könnte.

Ohne zu viel zur Story zu verraten, kann ich sagen, dass der Titel Time Stranger natürlich nicht grundlos gewählt wurde. Zeitreisen werden ein zentrales Element bei dem Versuch, die Katastrophe abzuwenden, ebenso wie eine Reise durch die Digiwelt. Wichtig zu wissen ist auch, dass das Spiel nicht davor zurückscheut, ernste Themen anzusprechen. Insbesondere in der zweiten Hälfte des Spiels werden unter anderem Mord, Selbsttötung und Verlust behandelt. Das passiert natürlich alles im Kontext von Digimon, aber die Ernsthaftigkeit, mit denen diese Themen behandelt werden und die Art, wie sie sich in die Geschichte einfügen, haben mir dabei besonders gut gefallen.

Unsere Digiwelt

Und was für eine Digiwelt das ist. Ich habe schon viele Digimon Spiele gespielt und noch nie zuvor hat sich die Digiwelt so sehr wie der Anime angefühlt. Unzählige Details, dutzende umherwuselnde Digimon in jeder Location und eine große Prise Easter Eggs sorgen dafür, dass die Welt sich wirklich lebendig anfühlt und das Erkunden unglaublich viel Spaß macht.

Apropos Easter Eggs: Es gibt nicht nur Anspielungen auf die Animes, sondern auch zu Digimon Spielen aus der Vergangenheit. Insbesondere an das erste Digimon World wird immer wieder liebevoll, aber dezent erinnert.

Was der Lebendigkeit des Spiels ebenfalls gut tut, ist die Menge an eingesprochenem Dialog – wahlweise auf japanisch oder auf englisch. Die meisten Dialoge der Hauptgeschichte wurden vertont, aber auch jedes der 475 Digimon im Spiel ruft den Namen seiner Signature Moves beim Einsatz. Die deutschen Übersetzungen bieten dabei die gewohnte Konsistenz der Reihe. Mir ist bewusst nur ein einzelner Übersetzungsfehler begegnet – beim Verteidigungstraining wird laut Beschreibung ANG anstatt VER trainiert. Aber wenn das der einzige Fehler bei über 50 Spielstunden war, ist das absolut zu verschmerzen.

Ich werde da sein, wenn ihr mich braucht

Fans von der Digimon World Reihe auf dem Nintendo DS und der Digimon Story Spiele Cyber Sleuth und Hacker’s Memory werden sich sofort in den Kämpfen zu Hause fühlen. Das rundenbasierte Kampfsystem von 3 gegen 3 zeigt sich hier in seiner Bestform. Ein besonderes Quality-of-Life Feature ist, dass man die Kampfgeschwindigkeit jederzeit auf 2x, 3x oder 5x umstellen kann. Gerade beim Grinden bzw. Trainieren ist das wirklich unverzichtbar und unglaublich angenehm. Und die Digifarm, die dieses Mal in Form eines Dioramas auf einer Weltkugel daher kommt, ist zwar deutlich simpler gestaltet, als noch zu Nintendo DS Zeiten, aber das ist nicht unbedingt etwas Schlechtes.

Für den Abschluss von Haupt- und Nebenmissionen verdienen wir sogenannte Anomaliepunkte, die wir in einem Skilltree ausgeben können. So schalten wir wahlweise passive Boni für unsere Digimon Freunde frei oder lernen Fähigkeiten, um von Zeit zu Zeit aktiv in das Kampfgeschehen eingreifen zu können. Und letztere brauchen wir vor allem in den neuen Bosskämpfen, die einem immer wieder begegnen. Dabei wird die reguläre Kampfmechanik dadurch aufgefrischt, dass ein Boss mit einer besonders großen Energieleiste und zusätzlichen Fähigkeiten besiegt werden will.

Aber auch diverse Nebenaktivitäten sorgen für Abwechslung. Äußere Labyrinthe, eine Art Mini-Dungeons oder Herausforderungsräume, verstecken sich überall in der Welt. Manchmal gilt es darin eine Gruppe von Feinden zu besiegen und andere Male warten darin Minispiele auf uns. So gibt es z.B. ein Peckmon-Rennen, bei dem wir auf dem Rücken des straußenartigen Digimon einen kleinen Parkour in einem Zeitrennen schaffen müssen. Außerdem gibt es ein ganzes Karten-Sammel-Minispiel, bei dem man gegen Menschen und Digimon an allen möglichen Orten spielen kann.

Nur ein großer Träumer?

Nun setze ich aber mal meine Nostalgie-Fliegerbrille ab und die Redaktionsbrille wieder auf, denn es gibt auch drei Punkte, die angesprochen werden müssen.

Grafisch ist Digimon Story Time Stranger das bisher schönste Digimon Spiel auf dem Markt – da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Allerdings ist die Optik dabei nicht gerade auf dem modernsten Niveau und man behilft sich nach wie vor mit Tricks, wie kurzen Überblenden zu einem weißen oder schwarzen Bildschirm, um ein Charaktermodell auszutauschen oder geschickten Kamerafahrten, um hier und da mal an einer Animation zu sparen. Doch gerade durch die cineastische Inszenierung wird viel wieder gut gemacht. Hinzu kommt, dass die Umgebungen deutlich detaillierter sind, als bspw. noch in Digimon Story Cyber Sleuth und insbesondere die Digimon Modelle sehen fantastisch aus. Wenn das der Kompromiss ist, kann ich sehr gut damit leben.

Was mir sauer aufgestoßen ist, war der sehr deutliche Hinweis, den man schon recht früh im Spiel erhält, dass es doch allerhand DLC zu kaufen gibt. Dabei handelt es sich beispielsweise um Kostüme, die dann auch kleine Quests mit sich bringen und für die man sich im Spiel umziehen muss. Diese Nebenaufgaben sind zwar für die Hauptstory nicht relevant, enthalten aber doch zum Teil interessante Hintergrundinfos zu den Charakteren, denen man im Spiel begegnet oder beleuchten Aspekte, auf die in der Hauptgeschichte nicht eingegangen wird. So hätte ich ohne diese Inhalte schon das Gefühl, dass mir etwas entgehen würde. Richtig problematisch finde ich allerdings einen DLC, der für 7,99 € angeboten wird und drei äußere Labyrinthe enthält: Die Halle der EP, die Halle des Goldes und die Halle der Materialien. Kauft man sich diesen Zusatzinhalt, kann man mit minimalem Aufwand unendlich Erfahrungspunkte, Geld und Materialien zum Umwandeln schnappen. Es ist wortwörtlich „Pay to Win“. Das wäre doch eine schöne Belohnung für ein Neues Spiel+ gewesen, die man sich verdienen kann, aber hier wurde entschieden, den Inhalt kostenpflichtig auszulagern und im Spiel wird dann von einem NPC sogar dafür geworben. Die Funktion an sich finde ich dabei als berufstätiger Mensch mit wenig Freizeit gar nicht schlecht, aber die Art und Weise, wie sie implementiert wurde ist bedenklich.

Mein dritter Kritikpunkt bezieht sich auf das Pacing der Geschichte. Ich habe beim Durchspielen jede Nebenaufgabe erledigt, sobald sie verfügbar war und das hat den Spielfluss nie zu stark unterbrochen, bis kurz vor dem Ende. Achtung: Es folgt ein struktureller Spoiler bis zum Ende des Absatzes, aber ohne auf den Inhalt einzugehen. Ihr wurdet gewarnt. Und zwar nimmt die Geschichte zum Ende des Spiels richtig Fahrt auf. Der Plot wendet sich, Drama bricht los und es geht um Alles. Und genau dann bekommen wir noch einmal eine klare Ansage, dass wir jetzt noch unerledigte Dinge tun können, weil es sonst kein Zurück mehr gibt. Sehr gut, sowas mag ich. Allerdings haut das Spiel dann plötzlich noch einmal fast zwei Dutzend Nebenaufgaben raus, die vorher nicht verfügbar waren. Und so wird aus „Okay, auf ins Finale.“ plötzlich noch eine acht Stunden lange Session, in der man jede Menge Sidequests erledigt, um ja nichts zu verpassen. Und die sind sogar inhaltlich für das Finale relevant, weil man sonst Charaktere, die noch auftreten, gar nicht kennengelernt hat. Damit war das Pacing des Finales völlig zerstört. Hier hätte ich mir gewünscht, dass alle diese Nebenaufgaben im Verlauf des Spiels nach und nach eingestreut werden, anstatt sie am Ende so lieblos vorgesetzt zu bekommen. Am Ende war ich dann nur froh, das Spiel durchgespielt und diese letzte Pflichtaufgabe erledigt zu haben, anstatt die Geschichte voll und ganz genießen zu können.

Gib mir ein Zeichen

Wo lande ich nun, nach all dem? Ohne zu zögern kann ich sagen, dass die vielen, vielen positiven Aspekte meine drei Kritikpunkte bei weitem überwiegen. Digimon Story Time Stranger ist mit Abstand das beste und rundeste Digimon Spiel, das ich bisher gespielt habe. Digimon Fans kommen in meinen Augen nicht daran vorbei und werden mit Sicherheit auch nicht enttäuscht.

Aber wie ist es, wenn man gar nichts mit Digimon anfangen kann oder bisher keine Berührungspunkte mit der Marke hatte? In dem Fall würde ich sagen, es ist dennoch ein gutes JRPG, das zwar technisch und vom Gameplay her nicht völlig auf der Höhe der Zeit angekommen ist, dies aber durch die sehr schön erzählte Geschichte und die interessanten (Neben-)Charaktere allemal ausgleichen kann. Auch wer Digimon noch gar nicht kennt, wird gut abgeholt und in die Thematik eingeführt.

Insgesamt gibt es von mir also eine deutliche Empfehlung für alle Digimon-Fans und auch einen Daumen nach oben für Fans klassischer JRPGs. Ich selbst werde auf jeden Fall noch mindestens einen zweiten Durchgang starten.

Vielen Dank an Bandai Namco für die Bereitstellung des Testmusters. Getestet auf PlayStation 5.